IP-basierte Infrastrukturen – Mut oder Wahnsinn?
Rohde & Schwarz, Lawo und Sony hatten wieder zu den »Technology Innovation Days« eingeladen. Die Beiträge im 3IT-Center des Berliner Fraunhofer Heinrich-Hertz-Institutes beschäftigen sich mit der Frage: Soll man jetzt in IP-basierte Infrastrukturen für die TV-Produktion und -Distribution investieren?
Hatte man im Vorjahr quasi die Eroberung eines neuen Ufers diskutiert, ging es nun um die Frage, wie man auf dem neuen Land Fuß fassen und den richtigen Weg in die Zukunft zu finden kann. Den Mut, sich darauf einzulassen, forderte Alain Polgar (mediaSTRAT) in seiner Einleitung angesichts des Wandels im Broadcast-Bereich ein. Der Zugang der Zuschauer verlagere sich von den B2B- (PayTV-) Plattformen auf einen fragmentierten OnDemand-Markt. Nur wer exklusive und hochwertige Inhalte biete, könne noch punkten. Deshalb investiere beispielsweise Disney Fox 22 Mrd. Dollar pro Jahr in Content. Bei dem auf kurze mobile Inhalte orientierten US-Dienst Quibi sind es »nur« eine Milliarde. Der immense Bedarf an Programm führe zu neuen Allianzen: Disney bindet Pinewood an sich, Netflix lässt in Shepperton bauen. Manch internationaler Kinoerfolg – Polgar nennt beispielhaft »Roma« mit mexikanischem Ursprungszeugnis – werde erst durch diese vertikale Integration möglich.
Mit den Milliardeninvestments in Inhalte können die deutschen Broadcaster nicht mithalten. Sie sind »noch profitabel«, aber gezwungen, gleichermaßen in Linear und Streaming zu investieren und »mehr Screens mit weniger Budget« zu bedienen, so Polgar. Erreicht werden könnte das unter anderem auch durch Ausrichtung der technischen Infrastrukturen an die neuen Bedingungen.
Zukunftsinvestition mit Hindernissen
Gemessen an den Ausschreibungen habe sich das Verhältnis zwischen IP und konventionellen Netzen »komplett gedreht in 12 Monaten«, berichtete Ulrich Voigt, Head of Design von Qvest Media. IP fasse alle Kommunikationsbedürfnisse zusammen und sei besonders für große Projekte geeignet. Voigt warnte aber auch vor Illusionen. »Die Wirtschaftlichkeit ist nicht unbedingt höher. Denn IPTV kann deutlich teurer sein als eine monolithische Einhersteller-Installation.« Das zeigt unter anderem eine vergleichende Kalkulation beider Varianten. Zudem sind viele Elemente der IP-Standardfamilie ST 2110 noch »work in progress« und proprietäre Lösungen dafür erforderlich. Beispielsweise treffen am Orchestrator oft proprietäre Schnittstellen-Definitionen aufeinander, die softwaremäßig angepasst werden müssen. Das verursacht Kosten, ebenso das Upgrading und realitätsnahes Testing. Letztlich erscheinen hybride Strukturen als sinnvolle (Zwischen-) Lösungen. Das gilt auch für große Lösungen, etwa für das Projekt für Bloomberg Asharq in Dubai.
Strukturschema und ein Ausschnitt aus der Raumplanung für das Neubauprojekt für Bloomberg Asharq. |
https://www.facebook.com/BR24/videos/589599078531517/
Videobeispiel dafür, wie der BR unterschiedlichste Quellen einbindet und die Produktion beim Redakteur bündelt.
Michael Bauer von Vizrt konstatierte einen Wandel zu Hochleistungs-IT in IP-Umgebungen mit ST 2110. Newteks proprietäres NDI könne durchaus wirtschaftlicher sein. Wiederum sind hybride Workflows angesagt.
Keine Grundfrage sei die Lagerung der Produktionsdaten in der Cloud oder im eigenen Datacenter. Bauer sieht den Knackpunkt an anderer Stelle: »Nur durch die Automatisierung ist eine sinnvolle Nutzung möglich.« Anhand einer Installation für Social Media beim BR machte er deutlich, wie sich die Bedienung eines kleinen Systems beim Redakteur konzentriert.
Sony will die Sender animieren, regelmäßige Events live in soziale Netzwerke zu streamen. Eine virtuelle Produktionsplattform umfasst ein komplettes Toolset. Am Anfang der Kette könne eine PXW-Z280 Kamera bzw. jede andere mit Streaming-Out stehen. Mobile Streaming-Komponenten könnten z.B. neue Kamera-Positionen erschließen. Beispielhaft nannte Nicolas Moreau Livedrehs in der DTM-Boxengasse und – in Verbindung mit 5G – beim Berlin-Marathon.
Standard-IT ersetzt AV-Produktionssysteme
Für Björn Schmidt von Rohde & Schwarz geht der Übergang von dezidierter Hardware zu Software auf Standard IT-Systemen gegenwärtig einem Höhepunkt entgegen. Ob Daten in der Cloud oder on Premise liegen, sei dabei weniger entscheidend, weil vielfältige Lösungen zur Verfügung stehen. Vorteile von Software-Lösungen für Cloud-Anwendungen sieht Schmidt u.a. in der bedarfsgerechten Skalierbarkeit der Rechenleistung, dem geringen Admin-Aufwand und bedarfsgemäßen Kosten. Geografisch verteilte IT-Ressourcen und ein 24/7-Betrieb funktionieren gut, wenn die neue Software ins aktuelle System integriert wird. Sicherheitsfunktionen sollten freilich nicht ausgelagert werden.
Das Fernseh-Weltereignis Superbowl ist eine produktionstechnische Herausforderung. |
IP-Netze sind die »Core Infrastruktur«, so Martin Olff von Lawo. Damit habe Lawo 2019 erstmals mehr Umsatz generiert als mit den Audio-Produkten. IP-Installationen wurden u.a. in der Schweiz, Belgien und Schweden und für Plazamedia aufgesetzt. Seit Januar ist ein neuer Ü-Wagen für den ORF unterwegs. Die 30 beim Superbowl eingesetzten Ü-Wagen – darunter zwei mit Lawo-IP-Produkten – wurden mittels IP zu einer hybriden Produktionsumgebung vernetzt. Handfeste wirtschaftliche Vorteile zeigen sich z.B. in der Einsparung von Reisekosten durch Remote-Produktionen beim australischen Broadcast-Dienstleister NEP. Das Zusammenwachsen der Office- und Broadcast-Netze bringe Vorteile. Wichtig seien aber Plug&Play und automatische Konfiguration.
»Nur Cloud ist nicht die Lösung«, schränkte Götz Menzel von IBM ein. Dennoch unterstützt auch Big Blue unterschiedlichste Konzepte. Durch den Erwerb von Red Hat kam auch Open Source-Software ins Angebot. IBM biete bedarfsgerechte Gesamtkonzepte aus Hard- und Software. Ein Beispiel für das Zusammenwirken unterschiedlicher Anwendungen im Broadcast-Bereich ist die Produktion des Wimbledon-Turniers von 2018, wo u.a. Spieler und Ball getrackt und die gewonnenen Daten zur Verfügung gestellt wurden. Das eigene Managementsystem beherrsche u.a. Red Hat, AMS, MS Azure usw. – denn viele Kunden nutzen bis zu drei Clouds. Die Cloud sei wegen der Kosten nur für große Datenmengen effizient. Menzel wies außerdem auf die bevorstehende Ablösung der SSD-Flash Speicher durch Storage Class Memorys hin.
Von IP im Neubau zum Kampf gegen den Flaschenhals
Voll auf IP setzt Welt N24 am neuen Standort. Der Rem Kohlhaas-Neubau neben dem Berliner Hochhaus des Springer-Verlages soll im 4. Quartal bezogen werden, berichtete Philipp Kern. Qvest ist für die Studiotechnik verantwortlich. Das Redaktionssystem Octopus nutzt alle aktuellen Optionen von Vizrt. Eine eigene Lösung bringt die Steuerungen zweier Kameraroboter-Hersteller unter einen Hut. Eines der beiden Studios verbindet auf 190qm traditionelle Produktionsweise und Greenscreen. Dank vier Metern Deckenhöhe werden Kameraroboter auch gehängt. Die Regien sind für drei Arbeitsplätze ausgelegt und können bei Bedarf auf acht Plätze erweitert werden.
Mit dem Partner Interlake hat die Potsdamer VR-Schmiede Volucap »im Dezember begonnen, einen Großteil der Berechnungsdaten in die Cloud auszulagern«, so Geschäftsführer Sven Bliedung. VR erzeugt realistische Szenerien mit realen Menschen, die von zahlreichen Kamerapositionen aus gedreht werden. Gegenüber Avataren oder Scans von Schauspielern sei die Prozesskette einfacher, weil die Animation entfällt. Jedoch ist der Datenanfall riesig. Das Ergebnis überzeugt aber inzwischen sogar Hollywood: Greenscreen-Shots für »Avengers Assemble« wurden bei Volucap bearbeitet. Viel Zuspruch bei Fans fand das virtuelle Chillen mit den FantaVier (»Ein Tag am Meer«). Gute Ergebnisse habe eine sechsminütige VR-Testversion mit einem Teil einer echten »Tagesschau«-Ausgabe gebracht.
Arnd Paulsen von Dolby berichtete über die Integration von Atmos in IMF, so dass der objektorientierte Sound auch den Broadcaster zur Verfügung stehe. Profile, Metadaten, Playlists usw. können übernommen werden, so dass in einer IMF-Struktur z.B. mehrere nationale (Schnitt, Sprache, UT) Varianten ausgeliefert werden können. Beim Mastering im Clipster helfen ein SDK und ein Toolpaket.
Der Flaschenhals aller Daten ist oft die letzte Meile. Kompressionsverfahren schrumpfen Datenberge, um hochqualitative Bilder durch die engen Verbreitungskanäle zu drücken. Im Laufe des Jahres geht Versatile Video Coding (VVC) in die offizielle Standardisierung, kündigte Jonathan Pfaff von der Entwicklergruppe des Heinrich Hertz Instituts an. Mittels »Neuronalnetz-basierter Vorhersage« (Data Driven Intra Prediction) sucht eine KI »nicht offensichtliche Muster« einer Bildfolge und leitet Kompressionsmöglichkeiten ab. Das soll Sendedaten nochmals um 50 Prozent reduzieren. Allerdings war die auf der Empfangsseite benötigte Leistung den Smartphone-Herstellern zu hoch. Die Entwickler mussten das neuronale 3D-Netz auf eine Ebene reduzieren, um die Anforderungen zu erfüllen.
Mitarbeiter: IT-Spezialisten statt Rundfunk
Der technische Wandel wirkt auch auf die Mitarbeiter: »Vor zehn Jahren haben wir Bild- und Tonleute gesucht. Heute suchen wir IT-Experten.« Die finde man bei Telekoms oder im Ausland, kommentierte Personalberater Ulf Genzel die veränderte Qualifikationsstruktur bei Dienstleistern und Sendern. Die heutige Sozialisierung von Belegschaften, beklagte Berater Habib Lesevic (Journey 2 Creation), blockiere den Wettbewerbsfaktor Mensch, dem »individuelles Potenzial systematisch abtrainiert« werde.
Gehe es um »agile Software-Projekte« forderte Alexander Meyenburg (Flying Eye) neues Denken von Auftraggebern und Auftragnehmern: Weg von 800 Seiten langen Projektbeschreibungen, hin zu präzisen Absprachen über Umfang, Qualität, Abfolge usw. einzelner übersichtlich definierter Gewerke. Das sollte mit klarer Verteilung von Kontrolle und Verantwortungen und ggfs. auch Risiken auf beiden Seiten im Vertrag fixiert werden.
Umstieg auf IP? »Mut ja, Wahnsinn nein!«
Der aktuelle Trend bringt Broadcaster und Streamer weiterhin weg von branchenspezifischer Hardware zu Standard-IT und Software, resumierte Alain Polgar. Stimuliert werde das, weil das Internet die für große AV-Anwendungen benötigte Leistung liefert. Innerhalb von IP-Strukturen scheine die Entscheidung zwischen on Premise und Cloud eher philosophisch. Gleichwohl ist auch die Cloud letztlich Hardware – und keinesfalls »virtuell«, gab Polgar mit auf den Weg.
Unterm Strich gibt es laut Alain Polgar für IP zurzeit kein »dogmatisches muss ich haben«. Noch ist es ist teuer und es funktioniert vielleicht nicht sofort zur vollen Zufriedenheit. Wirklich nötig ist IP heute, um Probleme zu lösen. IP-Vernetzung im Broadcast-Bereich sei mittelfristig eine Investition in die Zukunft und auf Dauer alternativlos. Die Entscheidungen bräuchten Mut – »Mut ja, Wahnsinn nein!«.