Editing von »Im Westen nichts Neues«
»Im Westen nichts Neues« gewann vier Oscars. Ein Interview mit Editor Sven Budelmann über diesen Film.
Bei der diesjährigen Oscar-Verleihung zählte »Im Westen nichts Neues« zu den großen Gewinnern. Nominiert hatte die Academy den Film in neun Kategorien, gewonnen hat er nun in vier Kategorien, und zwar als »bester internationaler Film«, für »beste Kamera«, »beste Filmmusik« und »bestes Szenenbild« (Liste der Gewinner 2023). Eine Oscar-Nominierung für den Schnitt gab es leider nicht, aber jeder weiß ja, dass nur guter Schnitt es erlaubt, die anderen Gewerke zum Glänzen zu bringen — und bester internationaler Film kann man ohne meisterhaften Schnitt auch nicht werden. Somit also Gratulation an die explizit per Oscar prämierten Gewerke, aber auch an Sven Budelmann, der »Im Westen nichts Neues« geschnitten hat.
Mit dem Editor Sven Budelmann sprach Steve Hullfish über die Postproduction von »Im Westen nichts Neues« und sie blickten dabei schwerpunktmäßig auf den Schnitt — aber auch darüber hinaus, denn Budelmann sagt einerseits: »Für mich ist der Schnitt der kreativste Teil des Filmemachens.« Aber er fügt sofort an: »Es geht nicht nur darum, das Bild zu schneiden. Es geht um das Gesamtpaket.«
»Im Westen nichts Neues« wurde schon bei den Bafta-Awards mehrfach ausgezeichnet und war dort speziell auch für den Schnitt nominiert. Auch für den »Eddie« des amerikanischen Cutter-Verbands ACE war diese Arbeit von Sven Budelmann nominiert. Für die Oscar-Verleihung war der Film ebenfalls in mehreren Kategorien nominiert.
Regisseur von »Im Westen nichts Neues« ist Edward Berger, er arbeitete nach Ende der Hauptdreharbeiten im Jahr 2020 zusammen mit Sven Budelmann am Schnitt.
Sven Budelmann hat seit 1993 mehr als 500 Werbespots, über 150 Musikvideos, 16 Spielfilme und viele TV-Serien in einer Vielzahl von Genres geschnitten. Er hat unter anderem auch »Der Medicus« und TV-Serien wie »Schatten der Mörder – Shadowplay« und »Deutschland 83« editiert.
Unten lesen Sie eine etwas verkürzte und verdichtete Übersetzung eines Gesprächs zwischen Sven Budelmann und Steve Hullfish — veröffentlicht auf film-tv-video.de mit freundlicher Genehmigung von Boris FX (D-Vertrieb: New Media AV). Einen Bericht, in dem es eher um Grading und VFX für diese Produktion geht, finden Sie hier.
Kannten Sie die Buchvorlage schon, bevor Sie über das Projekt mit dem Regisseur Edward Berger sprachen?
Budelmann: Ich hatte es schon vor langem gelesen, ich glaube, das war schon in der Schule. Ich erinnere mich nicht mehr genau an die Details, aber ich weiß noch, dass es schrecklich war — und dieses Gefühl blieb bei mir hängen. Also beschloss ich, es nicht noch einmal zu lesen und lieber das Gefühl von damals zu behalten.
Ich habe aber auch die beiden früheren Verfilmungen gesehen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich dabei die Kino- oder die Fernsehfassung sah, aber es ist irgendwie Teil unseres Schulsystems, dass jeder etwas über die Schrecken des Krieges lernen muss. Das ist etwas wirklich Wichtiges in der Schule. Jeder muss es lesen.
Wie sah der Zeitplan insgesamt aus? Wann begannen die Dreharbeiten und wann endeten sie?
Budelmann: Ich glaube, die Dreharbeiten begannen im Februar 2020 und dauerten bis Ende Mai. Dann kam Edward direkt zu mir in den Schneideraum. Von da an haben wir zusammengearbeitet.
Das war eigentlich das einzige Mal in der gesamten Covid-Phase, dass ein Regisseur direkt zu mir in den Schneideraum kam. Bei allen anderen Projekten habe ich dann Remote gearbeitet.
Die Eröffnungsmontage im neuen Film fand ich einfach toll. Es ist keine Kriegsmontage. Stattdessen beginnt die Eröffnung ruhig und malerisch, natürlich. Erzählen Sie mir ein wenig über den Aufbau dieser Montage? Wie lange hat es gedauert, sie zu konstruieren?
Budelmann: Es hat eine ganze Weile gedauert, weil der Anfang eines Films ja immer der schwierigste Teil ist. Man will so viel erreichen: Die Zuschauer beruhigen, ihnen das Tempo, die Tonalität des Films vermitteln, damit sie sich darauf einlassen.
Wir wollten letztlich nie einen Abenteuerfilm machen und wir haben nie auf die reine Sensation geschielt. Wir wollten von Anfang an klarstellen, dass wir ein langsameres Tempo anschlagen und wollten nur im Ton die Veränderungen andeuten und zeigen.
Zunächst hatten wir eine länger gedrehte Fuchsszene eingebaut, die mit einer plötzlichen Explosion des Fuchsbaues endete. Wir zeigten die kleinen Fuchswelpen. Wir blieben bei ihnen und dann kamen einige immer näher kommende Explosionen und plötzlich explodierte alles. Aber das fühlte sich einfach nicht richtig an, weil wir eben nie die Sensation suchen wollten. (…)
Wir hatten letztlich verschiedene Anfangspassagen: Einmal begannen wir mit dieser wunderschönen Landschaft. Alles ist still. Dann schneiden wir auf die Füchse und dann gibt es eine plötzliche Explosion. Dann schneiden wir einer oberen Einstellung, in der wir die toten Soldaten sehen, wo die Kamera nach unten fährt und das Schlachtfeld überfliegt — und erst dann sehen wir: ‚Ah, wir sind auf einem Schlachtfeld?‘ Dann gibt es eine weitere plötzliche Explosion. Das nächste Mal gibt es einen harten Schnitt von laut zu leise, wenn der junge Soldat mit einer Schaufel erschlagen wird und wir schneiden auf den Titel.
Da verwendeten wir also dreimal das gleiche Stilelement und wir hatten dann das Gefühl, dass das zu viel ist. Deshalb haben wir die Passage weggelassen, in der der Fuchsbau explodiert.
Wir wollten sicherstellen, dass sich das Publikum einerseits an das Tempo gewöhnt und andererseits auch an diese plötzlichen Änderungen der Tonebene.
Wir haben verschiedene Möglichkeiten ausprobiert, wie wir die Natur des Fuchses und den Kampf behandeln können. Das ist nicht einfach, vor allem, wenn man einen Film mit einer 30-sekündigen Totale am Anfang beginnt. Wir dachten: ‚Sollten es 40 Sekunden sein? 20 Sekunden? 30 Sekunden?‘ Das ist wirklich schwer zu beurteilen. Wir haben mehrere Sequenzen mit wunderschönen Naturaufnahmen — und wie ich immer sage: Dialogszenen sind leichter zu schneiden, weil sie eine Art Zeitrahmen vorgeben.
Die Länge der Szene ist immer irgendwie definiert und der Dialog gibt ihr eine Struktur. Wir haben viele Szenen ohne Dialog. Das gibt einem viel Freiheit bei der Länge, aber auch mehr Auswahlmöglichkeiten, was es schwieriger macht.
Was tut man da? Wir haben bereits im Schnitt an einem detaillierten Sounddesign gearbeitet. Das war notwendig, sonst hätten wir nie gewusst, ob das Timing stimmt.
Ein Teil davon ist normalerweise immer die Musik, aber der Anfang hat gar keine Musik. Können sie dazu etwas sagen?
Budelmann: Für mich ist es wichtig, die Tonalität eines Films zu erzeugen. Natürlich ist die Musik ein wichtiger Teil davon, diese Tonalität zu schaffen. Aber in unserem Fall sollte das alles etwas zurückhaltender und ruhiger erfolgen. Wir wollten die Zuschauer nie manipulieren oder ihnen irgendwelche Gefühle vorschreiben.
Alles sollte eher wie ein Dokumentarfilm aussehen, authentischer und realistischer. Einfach sehr sauber und blass.
Was ich bereits früh gemacht habe, ist das Arbeiten mit Layout-Musik. Das mache ich immer so, aber ich hatte in der Rohschnittphase nie das Gefühl, dass wir am Anfang Musik brauchen. Mir war ganz klar, dass die Musik erst ziemlich spät dazukommen soll. Das ist ein üblicher Ansatz, wie ich an eine Szene herangehe, etwa eine Kampfszene.
Man könnte meinen, dass eine Kampfszene, die zwei Minuten lang ist — wie die erste Kampfszene im Film — auch zwei Minuten Kampfgeräusche erfordert. Aber wenn man zwei Minuten Kampfgeräusche sieht, stumpft das schnell ab. Mir war klar, dass wir Dynamik brauchen. Die Arbeit mit der Dynamik kann auf vielen Ebenen funktionieren, etwa beim Sounddesign, bei der Wahrnehmungsperspektive oder in der Musik.
Wenn ich eine Szene beginne, versuche ich, Kapitel zu finden. In der ersten Schlachtszene zum Beispiel fährt die Kamera über das Schlachtfeld hinunter. Dort haben wir einen stillen Moment bis zur ersten Explosion. Dann bricht die Hölle los, wir sind im Schützengraben und alles ist sehr laut — bis der Soldat die Leiter hochklettert. Dann kommt das nächste Kapitel, in dem wir, glaube ich, ganz nah an dem Soldaten dran sind. Wir haben den Ton seines Atems herausgekitzelt. Die Wahrnehmungsperspektive ändert sich und wir können die Kampfgeräusche, die näher bei ihm sind, zurückdrängen. Das ist viel subjektiver.
Wir gehen mit ihm über das Schlachtfeld. Die Kamera ist auch näher dran, dann versteckt er sich hinter einem Baumstamm. Dann gibt es eine sehr nahe Explosion, die den Ton wieder verändert hat, und der Klang ist wirklich dumpf. Das ist ein Zufall, den wir geschaffen haben, damit wir von einem wirklich niedrigen Pegel anfangen und den Tonpegel mit Musik bis zum Höhepunkt aufbauen können, bis er den französischen Soldaten mit einer Schaufel trifft und wir dann auf die Titel schneiden.
Das sind die kleinen Kapitel, die ich versuche zu erstellen, um das Tempo und die Dynamik aufrechtzuerhalten.
Seite 1: Einleitung, Interview-Einstieg
Seite 2: Struktur, Nachdrehs, Rhythmus, Timing
Seite 3: Musik, Mischung, Zusammenarbiet