Film, Top-Story: 04.05.2016

Dokfest München 2016: Vorschau und Empfehlungen

Am Donnerstag den 5. Mai 2016 beginnt das 31. Internationale Dokumentarfilmfestival München mit einem Programm aus 151 Filmen aus 46 Ländern. Der Doku-Kameramann Hans Albrecht Lusznat hat einen Teil der Filme schon gesehen und gibt hier seine ganz persönlichen Tipps und Bewertungen mit einer Abstufung von null bis zu fünf Sternen ab.

Dead Slow Ahead

Dead Slow Ahead.
Eine Seereise mit einem Frachtschiff.

Eine Seereise auf der Fair Lady, statische Bilder aus dem riesen Kosmos eines Frachtschiffes, einer gewaltigen Maschinerie im Nirgendwo mit einzelnen, fast verlorenen Besatzungsmitgliedern.
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Les Sauteurs

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Melilla: Wunschziel vieler junger Afrikaner.

Die europäische Enklave Melilla ist das Wunschziel vieler junger afrikanischer Männer, wird aber durch Infrarot-Überwachungskameras und doppelte Zäune Tag und Nacht bestens geschützt. Die fluchtwilligen Schwarzen warten und campen auf dem Berg Gurugu gegenüber der Sperranlage. Manchmal brechen sie gemeinsam auf, um in einer großen Gruppe die Zäune zu überwinden, was aber selten gelingt, weil die Polizei auf der anderen Seite schon frühzeitig dank der Technik jede Bewegung erkennt und entsprechend reagieren kann. Die Regisseure haben einem der jungen Schwarzen eine Kamera in die Hand gedrückt und ihn zum Filmen animiert, und damit hat der junge Mann seine Bestimmung gefunden und dokumentiert den Alltag im Camp auf Berg Gurugu, das Zusammenleben, die Regeln und die Versuche, an den Zaun zu kommen und den Absprung nach Europa zu schaffen.
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Im Jugendamt

Im Jugendamt.
Jolanta Mirski: 18 Jahre Diensterfahrung.

Jolanta Mirski ist mit 18 Jahren Diensterfahrung die älteste Fachkraft im Jugendamt Bergisch Gladbach und die Hauptperson in diesem beobachtenden Dokumentarfilm über den Arbeitsalltag der Sozialhelfer. Einfühlsam werden verschiedene Fälle unter Mitwirkung der Betroffenen über einen längeren Zeitraum hinweg dargestellt. Doch weil sich die Tätigkeit immer mehr von der Feldarbeit mit den Klienten auf ein Fall-Management am Schreibtisch verlagert, sucht sich Jolanta am Ende einen anderen Job.
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Man falling

Man Falling.
Man Falling: der Maler Per Kirkeby.

Der international bekannte Maler Per Kirkeby ist die Treppe hinuntergestürzt und hat sich den Kopf angeschlagen. Seitdem ist seine Sehfähigkeit stark eingeschränkt. Im Film begleitet die befreundete Dokumentaristin mit der Kamera seine Versuche, die künstlerische Tätigkeit mit Unterstützung durch Frau und Freunde wieder aufzunehmen. Sehr offen spricht er über seine Zweifel, seine Einschränkungen und auch seine Abhängigkeiten von Hilfen durch andere. Die Nähe und die intime Beziehung zu den Personen erkauft die Allround-Filmemacherin mit Defiziten in der Bildgestaltung und Kameraführung.
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Racing Extinction – Das Ende der Artenvielfalt

Racing Extinction.
Gegen Artensterben und Klimawandel.

Was man tun sollte, gegen Artensterben und zum Stoppen des Klimawandels: gut gemacht, wie viele dieser Filme.
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Inside the Chinese Closet

Inside the chines closet.
Viele Zwänge: Lesben und Schwule in China.

Junge Chinesen sind schon durch die Ein-Kind Politik gestraft, denn nie gibt es Onkel, Tante, Nichte oder Cousins. Andy und Cherry sind schwul beziehungsweise lesbisch. Sie selbst haben ihr Coming out hinter sich. Gleichzeitig fordern ihre Eltern aber, den Schein aurecht zu erhalten – mit Fake-Hochzeit und einenm Kind. Der Film begleitet die beiden unabhängig ein Stück auf ihrem Lebensweg und zeigt, wie sie das Ansinnen der Eltern mit der eigenen Lebensplanung unter einen Hut bekommen können. Ein großer Teil des Films findet am Smartphone statt, er gibt aber trotz allem einen Einblick in den Alltag chinesischer Familien.
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Traceroute

Traceroute.
Ein Nerd auf der Suche.

Johannes Grenzfurtner ist Österreicher und Nerd, was er zu Beginn des Films in einer ausführlichen Autobiografie anhand von Bildern und selbstinszenierten Spielfilmen aus der Jugendzeit belegt. Um herauszufinden, was ein Nerd ist, macht sich der Autor auf eine Reise durch die USA, um Vorbilder-und Idole seines Schaffens zu besuchen, unter anderem V. Vale, Adam Flynn, Maggie Mayhem, Josh Ellingson, Abie Hadjitarkhani, Sandy Stone, Greg R. Vita. Der Film ist wie ein Feuerwerk spontaner Einfälle, Cartoons, eine Collage aus Zeichnungen, Bildern, Fotografien und Texten und im Geiste verwandt der Zeitschrift Monochrom, die Grenzfurter mit anderen in einem Künstlerkollektiv in Wien herausgibt. Höchstwahrscheinlich ist es der Film des Festivals, über den am meisten geredet werden wird.
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4

4.
Vier Musiker auf Reisen.

Quantuor Ebene ist ein französisches Streichquartett mit zwei Geigen, Bratsche und Cello und wird von den vier Musikern und Freunden Pierre Colombet, Gabriel Le Magadure, Mathieu Herzog und Raphael Merlin gebildet. Der Film begleitet sie auf einer Konzertreise in die Städte Schweinfurt, Neuss, Bozen, Florenz, Siena und Perugia, wobei sich Filmausschnitte der Konzerte mit Beobachtungen der Reise, Übernachtungen, Proben und Diskussionen abwechseln. Wenn sie mit ihren Rollkoffern und geschulterten Musikinstrumenten durch die Gassen ziehen, auf der Suche nach schwer auffindbaren Konzertsälen, dann wird der mürbe Alltag dieses Gewerbes deutlich.
Es gibt eine schöne Szene, die einen nach 30 Minuten aus der Lethargie des Betrachtens reißt, wenn der Professor und Mentor Eberhard Feltz mit den vier Streichern bei einer Probe über die Dramaturgie der Musik spricht. Genial ist der Titel des Films, die einfache Ziffer 4, die in jeder alphabetischen Sortierung automatisch an den Anfang rutscht.

Tendenzen, Kommentare

Das Dokfest findet vom 5. bis zum 15. Mai 2016 statt.
Das Dokfest findet vom 5. bis zum 15. Mai 2016 statt.

Aus den beschriebenen Filmen, die natürlich nur einen Ausschnitt des gesamten Programms des Dokumentarfilmfestivals darstellen, zieht der Autor Hans-Albrecht Lusznat einige Schlüsse.

Kaum Filme auf rein visueller Basis
Es gibt kaum noch Filme, die nur auf visueller Basis ohne Kommentar, Erzähler oder Dialog funktionieren würden (Ausnahme: Homo Sapiens, Dead slow ahead). Inzwischen hat der Hörfunk das Kino übernommen und selbst Dialogszenen reduzieren sich auf Telefonanrufe mit laut gestelltem Handy, was man nicht den Dokumentaristen anlasten kann, denn das ist längst gesellschaftliche Realität.

Problematiken des dokumentarischen Filmemachens
Wie authentisch sind Erfahrungen, wie glaubhaft ist das, was da vor der Kamera von Zeitzeugen berichtet wird, und wie willig lauscht der Filmemacher und auch Zuhörer den Erzählungen, weil er es für die Geschichte braucht und so auch gerne glauben will? Im Film Cafe Nagler tritt ein Zeitzeuge auf, der in besagtem Cafe als Kind eines der engagierten Musiker viel Zeit verbracht hat und von der Wirtin mit Pralinen gefüttert worden ist. Nachdem er diese Erlebnisse sehr glaubhaft geschildert hat, beugt sich der Betreuer im Altenheim zur Kamera vor und gibt zu bedenken, dass der alte Herr erst geboren worden ist, nachdem das Cafe bereits für immer geschlossen hatte.
Protagonisten sind der Roh-Stoff, mit dem Dokumentarfilme gemacht werden, und das Machen von Dokumentarfilmen ist auch ein Geschäft, bei dem Geld eine Rolle spielt. Besonders deutlich erfährt dies die Regisseurin von Sonita, als ihre Hauptdarstellerin von der Familie für die Hochzeit mit einem Mann verkauft werden soll. »Kauf mich« ist eine Aufforderung an die Filmemacherin. Damit sie den Film auch fertig machen kann, bleibt ihr am Ende nichts anderes übrig, als das Geld aufzubringen. Sicher eine richtige Entscheidung und in der Konsequenz eine Befreiung für das junge Mädchen – aber ein No-Go für das Kredo eines wahren Dokumentaristen.

Filmemacher im Bild
Viele Filmemacher erzählen nicht nur eine Geschichte, sie erscheinen auch persönlich im Bild, meist freiwillig, manchmal auch nur widerwillig kurz, wenn die Kamera vom Protagonisten umgedreht wird: Helmut Berger, Cafe Nagler, Hinter dem Schneesturm, Vom Töten Leben, Les Sauteurs, Traceroute, Sonita. Die Interaktion mit den Protagonisten gipfelt bisweilen in Beschimpfungen bis hin zu Auseinandersetzungen wie bei Helmut Berger oder Hinter dem Schneesturm.

Regen
In auffällig vielen Filmen regnet es und die Macher ergötzen sich an dem Geräusch, das durch Sound Design besonders bearbeitet oder verstärkt wird. (Zen, Hinter dem Schneestrum, Koudelka, Homo Sapiens)

Der 2. Anlauf, der 2. Versuch
Noch mal nachschauen, was aus der Geschichte geworden ist, war schon immer eine beliebte Möglichkeit, Veränderungen aufzuzeigen. Zum einen kann man auf vorhandenes Material zurückgreifen und zum anderen hat der Zeitvergleich für den Zuschauer von Haus aus eine unterhaltsame Komponente und er beantwortet die Frage: Was wohl aus dem geworden ist? Zwei Filme des Festivals praktizieren diese Methode intensiv: Vom Töten Leben / Herkules.

Fotografen als dokumentarischer Steinbruch
Fotografen mit ihren Bildarchiven sind ein begehrter Rohstoff für dokumentarische Filmauslassungen und bringen, egal ob lebend oder schon tot, mit ihrem Oeuvre von Haus aus eine zweite Ebene in den Film ein. Das gilt auch für erfolgreiche Künstler. Ideal ist der singende und malende Fotograf, der Bilder zeigen und Lieder performen kann. Dieses Jahr gibt es vier Fotografenfilme: Master und Tatyana, Koudelka shooting Holy Land, Kandahar Journals, Don’t blink – Robert Frank, und bei den Künstlern ist Eva Hesse und Per Kirkeby (Man falling) vertreten.

Musik und Sondtrack
Sehr viele Filme arbeiten mit speziell für den Inhalt komponierter Musik. Auf den Soundtrack wird immer mehr Wert gelegt und die Tonspuren sind aufwändig nachbearbeitet.

Noch eine Kamera
Für professionelle Kameraleute kann sich die sogenannte »Additional Camera« zur Pest auswachsen, denn dahinter verbergen sich oft die Versuche von Autoren, Kosten zu sparen und selbst zu drehen. Ansonsten ist die diesjährige Filmauswahl erstaunlich frei von modischen Technikspielereien oder aufgesetzten Bildideen.
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