Report, Top-Story: 03.09.2009

Countdown: »24h Berlin« am 5. September auf Sendung

Vor knapp einem Jahr waren in Berlin 80 Teams unterwegs und fingen das Leben in Berlin mit bandlosen Sony-Camcordern ein. Ein Jahr später, am 5. September 2009, strahlen Arte und der RBB die 24h-Mammut-Doku aus.

»24h Berlin« ist sicherlich eines der interessantesten und ungewöhnlichsten TV-Projekte der vergangenen Jahre: Die Hauptstadt wurde 24 Stunden lang von 80 Drehteams dokumentiert. Rund 1.000 Stunden HD-Material sind so zusammengekommen — bandlos aufgenommen mit den Sony-Camcordern PDW-700 und EX3. In der Postproduktion ist daraus eine 24-Stunden-Doku entstanden, die kommenden Samstag, am 5. September 2009 ausgestrahlt wird.

film-tv-video.de hat die Produktion des Projekts begleitet und ausführlich darüber berichtet:
Videoreport zur Produktion von »24h Berlin«
Postproduction von »24h Berlin«.
Kurz vor der Ausstrahlung beleuchten Volker Heise, Künstlerischer Leiter des Projekts und Annette Muff, die Chef-Cutterin, inhaltliche Aspekte des Projekts.

Interview mit Volker Heise, Künstlerischer Leiter »24h Berlin«

Wie sind Sie auf die Idee zu »24h Berlin« gekommen?

Volker Heise: Das ist nicht so einfach zu erklären. Es gibt den einen Punkt und den einen Ort, an dem es »Aha« gemacht hat. Aber eine Idee reift natürlich über einen längeren Zeitraum. Zuerst gab es die Grundidee von einem soziokulturellen Abbild der Stadt — die Milieus, die Schichten, die Gruppen und Interessen — aber dann ist über die Zeit etwas ganz anderes daraus geworden.

Wie hat sich Ihre Idee entwickelt? Gab es Vorbilder dafür?

Volker Heise: Es gab einige Punkte, über die ich immer wieder nachgedacht habe, zum Beispiel: Wie erzählt man heute eine Großstadt? Es gibt ja Vorbilder in der Literatur: Döblin, James Joyce, vor allem John dos Passos’ Roman »Manhattan Transfer«. Und solche Filme wie »Menschen am Sonntag« von Wilder und den Brüdern Siodmak, der so wunderbar entspannt ist — und mir immer näher war als Ruttman’s »Symphonie einer Großstadt«. Aber heute leben andere Menschen mit anderen Medien. Wie erzählt man mit diesen neuen Medien? Wie erzählt man Großstadt adäquat im Fernsehen? Indem man wieder einen 90-Minuten-Film, also wieder Kino macht? Das konnte es nicht sein. Dann las ich einen Artikel von einem Britischen Historiker, der seine Landsleute aufrief, in einer kurzen E-Mail einen bestimmten Tag in ihrem Leben zu protokollieren. Ich dachte: Warum E-Mail? Jeder hat doch ein Handy mit Videofunktion, jeder kann Filme machen. Ist doch viel besser. Und dann dachte ich: Wir machen ein Fernsehprogramm daraus. Wir drehen einen Tag, wir senden einen Tag; jeder kann mitmachen, aber wir geben eine Grundstruktur vor. Es klickte noch einmal und ich wusste: Ja. So könnte man die Stadt im Fernsehen erzählen: Als einen Tag in ihrem Leben.

Warum gleich 24 Stunden?

Volker Heise: Die Stadt ist nicht in einem Satz zu erzählen, sie entzieht sich der Beschreibung. Schon von ihrem Grundwesen her ist sie maximale Verschiedenheit auf engstem Raum. Darum fand ich die Idee, die Stadt nicht in Form eines Films zu erzählen, sondern in Form eines Fernsehprogramms, die adäquate Lösung. Programme erlauben Verschiedenheit, während Filme geschlossene Erzählungen sind. Programme dauern aber auch ihre Zeit. Mich hat Fernsehen auch immer mehr interessiert als Film. Aber die großen Künstler im Fernsehen sind ja die Programmmacher. Die Leute, die die ganze Fläche des Tages bespielen. Und da habe ich mich gefragt, was passiert, wenn ich, ein Dokumentarfilmer, ein Fernsehprogramm mache, was passiert, wenn ich nicht im Raster spiele, sondern mit dem Raster. Darum ist das Programm auch ein Spiel mit dem Medium Fernsehen. Wir greifen Elemente auf, die es schon gibt, drehen sie hin und her und setzen sie neu ein. Es gibt Elemente der Serie, Elemente von Nachrichten. Die Grundstruktur des Programms habe ich bei CNN geklaut: Regelmäßig Nachrichten — nur sind es bei uns keine Weltnachrichten, sondern Frau Bullack geht einkaufen, und statt Werbung gibt es bei uns die Videos der Zuschauer. Ich wollte auch der Ursprungsidee treu bleiben: Die Vielschichtigkeit erzählen, die Milieus und Interessengruppen. Es sollte nur keine dröge Vorlesung werden, darum haben wir uns früh entschlossen, die Stadt über Menschen zu erzählen. Wir folgen ihnen den ganzen Tag, vom Aufstehen bis sie ins Bett gehen, und wir verzahnen ihre Geschichten miteinander. Sie kommentieren sich gegenseitig, sie reiben sich aneinander, widersprechen sich oder harmonieren; sie erzeugen Echos und gemeinsam einen neuen Klang. Das geht nur im Medium Fernsehen, wo man einen ganzen Tag lang senden kann, und das geht nur, wenn man sich auch an die Gesetze des Fernsehens hält.

Was wird in den 24 Stunden erzählt, was das Fernsehformat bedingt?

Volker Heise: Die Form des Programms erlaubt es, den Alltag der Menschen zu erzählen. All das, was wir jeden Tag machen, was 99 Prozent unseres Lebens ausmacht, was uns aber aus dem Blick gerät, weil es selbstverständlich ist, oder wir glauben, es sei selbstverständlich. Wie stehen wir auf? Was essen wir zum Frühstück? Wie sind wir eingerichtet, was ziehen wir an, wie kommen wir zur Arbeit oder in die Schule? Solche Fragen klingen ganz banal, aber wenn man länger darüber nachdenkt, entdeckt man, dass Städte Wunder sind, weil sie diese Fragen auf unterschiedlichste Art und Weise zu klären vermögen. Dann verlangt das Format, diese Geschichten auf Augenhöhe zu erzählen. Wir erzählen nicht über, sondern von Menschen. Es ist nicht unsere Aufgabe, ein Urteil über sie abzugeben, egal, ob sie Bürgermeister sind oder Junkie, Chefredakteur oder Schornsteinfeger. Wir führen sie nicht vor, sondern versuchen, sie aus ihrem Lebensentwurf heraus zu verstehen. Wir zeigen auch nicht, wie das Leben sein sollte oder wir es gerne gehabt hätten, sondern wie wir es am 5. September 2008 vorgefunden haben. Schließlich mussten wir uns an die Zeitleiste halten: Was gegen neun Uhr passierte, wird auch gegen neun Uhr gesendet. Wir hatten nie den Ehrgeiz, auf die Minute genau zu sein, aber wir hatten doch den Ehrgeiz, im Zeitrahmen zu bleiben, um die Stadt am Sendetag spiegeln zu können. Natürlich mussten wir uns im Schnitt immer wieder für oder gegen eine Geschichte und damit für oder gegen einen Protagonisten entscheiden – entweder, um der Erzählung einen Fluss zu geben, oder um die Vielschichtigkeit des Programms zu wahren. Wir durften einem Protagonisten oder einer Geschichte nicht zu viel Gewicht geben, weil sonst die Stadt verloren ging. Wir durften aber auch nicht zu lange abstrakte Stadt zeigen, weil es dann sehr schnell blutleer wurde. Das war der eigentliche Balanceakt: Nähe und Totale, der einzelne Mensch und die Stadt.

Wer entscheidet darüber, was ins Programm kommt und was nicht?

Volker Heise: Als künstlerischer Leiter entscheide letztlich ich darüber. Ich bin dafür verantwortlich, dass das Endprodukt so aussieht, wie es aussieht. Aber ich bin mir bewusst, dass es das Programm nur gibt, weil viele, viele Menschen ihr Wissen, ihre Erfahrung und ihr Können eingebracht haben, ob Rechercheure, Regisseure, Cutter oder andere. Den meisten Regisseuren war klar, dass es nicht darum geht, einen Autorenfilm zu machen. Wir haben sie eingeladen, bei diesem Projekt mitzuwirken und die Dreharbeiten als Experiment oder Happening zu sehen. Alle kannten die Spielregeln: Wir recherchieren, sie drehen, wir schneiden. Die meisten haben sofort ja gesagt und hatten Lust auf das Experiment, mit einigen mussten wir länger reden und Überzeugungsarbeit leisten. Bei so vielen Regisseuren war mir auch klar, dass ich die unterschiedlichsten Handschriften bekommen werde. Auf den ersten Blick mag das Endprodukt wie aus einem Guss aussehen, aber bei genauem Hinsehen kann man die individuelle Handschrift sehr gut erkennen.

Was erwarten Sie vom Sendetag?

Volker Heise: Ich erwarte nichts, aber ich hoffe, dass sich die Zuschauer im Programm wieder erkennen werden. Es ist uns unter der Hand zu einer menschlichen Komödie geworden, die davon erzählt, wie die Menschen in Berlin auf die Welt kommen, wie sie diese Welt wieder verlassen und wie sie zwischen diesen beiden Ereignissen versuchen, ihr Glück zu finden, einen Sinn oder einen Menschen, mit dem man das Leben teilen kann. Und ich würde mir wünschen, dass sie die 24 Stunden wie ein Fernsehprogramm nutzen: Niemand muss das ganze Programm sehen. Man kann es auch an- und ausschalten, morgens eine halbe Stunde, mittags eine halbe Stunde, abends etwas länger. Man wird immer einen Ausschnitt der Stadt sehen, aber nie die ganze Stadt, weil die ganze Stadt zu sehen unmöglich ist. Wir haben es trotzdem versucht, in der Absicht, fröhlich, unterhaltsam und spannend zu scheitern.

Was bedeutet Ihnen »24h Berlin«?

Volker Heise: Es ist ein Projekt, wie man es nicht noch einmal macht. Es ist ein 2-jähriger Marathon, der viel Kraft gekostet hat. Es ist ein Privileg, weil wir die Mittel sowie von RBB und Arte das Vertrauen für einen Tag Sendezeit bekommen haben. Es ist eine Ehre, weil ich mit großartigen Menschen und Kollegen zusammenarbeiten durfte und ich viel von ihnen gelernt habe. Es ist ein Tag im Leben einer großen Stadt, der ich viel zu verdanken habe.

Interview mit Annette Muff, Cutterin

Sie gehören zum Team, das sich um den Schnitt kümmert. Sie müssen doch eine ungeheure Menge Filmmaterial zu bearbeiten haben. Wie stellt man sich dieser Aufgabe?

Annette Muff: Ja, bei insgesamt 750 Stunden Drehmaterial braucht es schon eine gute Organisation. Das ist schon fast ein bürokratischer Kraftakt. Da man so viel Material ja gar nicht sichten kann, haben wir wie schon bei früheren Projekten ein System entwickelt, in dem man mit Hilfe von Logistik einen ersten Zugriff auf das Material bekommt. Insgesamt arbeiten wir an vier Rechnern, die miteinander vernetzt sind, damit von allen Rechnern in alle Projekte und auf das gesamte Material zugegriffen werden kann.

Wie gingen Sie konkret vor?

Annette Muff: Zuerst musste das Material genau erfasst und durch die Schnittassistenten im Avid organisiert werden. Wir arbeiteten zusätzlich mit einer Filemaker-Database, die die Suche nach den einzelnen Bildern und Szenen erleichtert. Natürlich hatten wir auch Unmengen an Listen, auf denen alles von der Tonbelegung der Teams, bis hin zu Ort und Zeitpunkt des Erscheinens der Protagonisten oder Sperrvermerke und verwendete Musiken festgehalten wurden. Zusätzlich arbeiteten wir mit Ablaufplänen der bereits geschnittenen Stunden. Viel Bürokratisches, wie ich schon sagte.

Gab es Zeitpläne? Wie sahen die einzelnen Arbeitsphasen aus?

Annette Muff: Die Schnittphase 1 umfasste die ersten zwei Monate. Erst schnitten wir die Szenen mit den zwanzig so genannten Hauptprotagonisten vor. Aus fünf bis zehn Stunden Material pro Protagonisten entstand ein Vorschnitt von ein bis drei Stunden über den Tag verteilt. In Phase 2 schnitten drei Cutter je eine Stunde roh aus den Vorschnitten der Hauptprotagonisten und den neuen Szenen der restlichen Protagonisten. Die vierte Cutterin bereitete in dieser Zeit schon mal die Talkpoints und das Amateurmaterial vor.

Und seit wann arbeiten Sie an der Endfassung?

Annette Muff: Seit Anfang des Jahres lief die dritte Schnittphase, also unsere hauptsächliche Arbeit: Erst drei, dann zwei Cutter schnitten bis zu drei Stunden roh, das szenische Gerüst der Stunden.

Haben Sie eine spezielle Arbeitsteilung?

Annette Muff: Ich mache davon den Final Cut. Da kommen dann die ganzen Stadtmontagen mit der Musik, die Berlin-Bilder und so weiter noch dazu… Seit Mai ist die vierte Cutterin mit der sehr komplexen Konfektionierung der 24 Stunden beschäftigt: Zusammensetzen der einzelnen Stunden mit farbkorrigiertem Bild, Mix, Grafik und Untertiteln in drei Sprachfassungen.

Gab es denn eine Testphase? Wie haben Sie sich auf diese Riesenarbeit vorbereitet?

Annette Muff: Es gab eine Testdrehphase im Winter 2007/2008. Da hat Volker Heise mit mir zusammen die Erzählweise entwickelt — vor allem auch die Methode, im Schnitt einen authentischen Flow zu suggerieren. Das heißt, wenig verdichtet zu schneiden und keine Jump-Cuts. Wir haben uns dabei auf szenisch-situatives Schneiden geeinigt.

Gibt es eine Arbeitsteilung zwischen den Cuttern und Volker Heise?

Annette Muff: Ja, Volker Heise gibt natürlich den großen Bogen vor. Die Cutter liefern die Geschichten im Rohschnitt und von Volker Heise kommt das Korrektiv von außen. Wir planen aber gemeinsam anhand des vorhandenen Materials jeweils drei szenische Stunden. Durch den Zeitdruck können wir nicht wie bei normalen Projekten endlos lange ausprobieren: »We’ve got only one shot«, wie der Cutter sagt.