ProSiebenSat.1: Bandlos in Playout und Archivierung
Derzeit werden täglich durchschnittlich 270 Videokassetten im Bereich Materialwirtschaft der ProSiebenSat.1 (P7S1) Produktion angeliefert und dann physisch über viele einzelne Stationen innerhalb der Sendergruppe transportiert, bis alle Instanzen durchlaufen sind und der Programmbeitrag auf Sendung gehen kann. So läuft das immer noch bei der Mehrzahl der Broadcaster. Bei P7S1 soll das aber nun anders werden, denn in Zukunft wird in Unterföhring mit einem neuen Playout-Center, das an einen neuen, zentralen Material-Pool angebunden ist, weit gehend bandlos gearbeitet.
In Unterföhring bei München liegt die Zentrale der P7S1-Gruppe und von dort wird schon immer der Großteil der Programme des Konzerns technisch abgewickelt. Das soll auch in Zukunft so bleiben, aber effizienter, flexibler, kostengünstiger und mit weniger Personal vonstatten gehen. Deshalb investierte der technische Dienstleister des Konzerns, die P7S1 Produktion, rund 12 Millionen Euro in ein neues Playout-Center, das nun kurz vor seiner Inbetriebnahme steht: In den kommenden Wochen sollen sukzessive alle deutschsprachigen Kanäle der Gruppe auf die dort installierte, neue Technik migrieren — außer N24, denn dieser schon mit moderner News-Produktionstechnik ausgestattete Sender der Gruppe wird weiterhin aus Berlin senden (siehe Bericht).
Im neuen Playout-Center hat die P7S1 Produktion die bisher getrennten Funktionen der einzelnen Sendeabwicklungen und des Hauptschaltraums zusammengefasst. Um durchgängig bandlosen Betrieb zu ermöglichen, wurde gleichzeitig ein Zentralspeicher installiert, der bei P7S1 als Material-Pool bezeichnet wird und den parallelen Zugriff auf das dort gespeicherte Material erlaubt.
Dr. Martin Emele, einer der beiden Geschäftsführer der P7S1 Produktion, erläutert: »Seit einiger Zeit schon stellen wir sukzessive auf file-basierte Prozesse um, Bänder werden durch Dateien ersetzt. Dabei ist das neue Playout-Center ein zentraler Baustein: Nicht nur die Ausstrahlung unserer Programme wird bandlos erfolgen, sondern zuvor schon die Anlieferung der Inhalte in die Sendeabwicklung, die technische Qualitätskontrolle und die Bearbeitung von Programm.« Das Konzept geht also über die reine Sendeabwicklung hinaus und betrifft auch weitere Bereiche: »Künftig können Mitarbeiter von verschiedenen Tochterfirmen und an verschiedenen Standorten gleichzeitig auf dasselbe Material zugreifen, es sichten und bearbeiten. Technische Qualitätskontrollen laufen weit gehend automatisch ab.« Insgesamt werden zu Beginn 300 Mitarbeiter bei P7S1 mit dem neuen Material-Pool arbeiten und in der einen oder anderen Form Zugriff auf das Material haben — wobei es natürlich ganz unterschiedliche Berechtigungsstufen gibt.
Andreas Bartl, Vorstand German Free TV der P7S1-Gruppe, sieht im neuen Playout-Center eines der beiden aktuellen Großprojekte innerhalb der Unternehmensgruppe, das andere ist der ebenfalls anstehenden Umzug von Sat.1 nach Unterföhring (erste Meldung).
Bestehende Abläufe neu abgebildet und beschleunigt
Die einzelnen Instanzen, die das bei P7S1 angelieferte Material durchlaufen muss, bleiben prinzipiell gleich. Dazu gehören unter anderem Qualitätsprüfung, Jugendschutz, Technische Redaktion, Trailer-Schnitt und Sendebanderstellung. Wenn innerhalb des Ablaufs Änderungen am Material nötig werden, müssen teilweise frühere Instanzen noch einmal durchlaufen werden. Mit Bändern ist das problematisch und bedeutetet weiteren physischen Transport, sowie Ein- und Ausspielvorgänge. Wenn das Material am Ende der Kette dann zusätzlich zur TV-Ausstrahlung auch auf anderen Plattformen verwertet werden soll, muss bisher das Band mehrfach neu eingespielt werden.
Um diese Vorgänge zu parallelisieren, effizienter zu gestalten und damit auch die Zeitspanne vom Eingang des Material bis zum Playout zu verkürzen, setzt die P7S1 Produktion auf ein Konzept, in dessen Zentrum ein zentrales Speichersystem mit Archivfunktionalität steht: der Material-Pool.
Sämtliches Material, das bei der P7S1 Produktion als Kassette, als Live-Signal oder als Datei ankommt, wird im Material-Pool abgelegt. Wenige Minuten nach Beginn des Ingests können die Mitarbeiter verschiedener Abteilungen, etwa auch aus Programmplanung, Redaktionen und Marketing, von ihren Arbeitsplätzen aus zeitgleich das Material sichten und bearbeiten. Gleichzeitig fallen viele manuelle Arbeitsschritte entweder ersatzlos weg, oder können automatisiert werden. Soll das Material auch im Internet oder als Handy-Angebot verwertet werden, lässt sich das aus dem bandlosen Material-Pool sehr schnell und einfach realisieren. Neben dem klassischen Fernsehen sollen also auch Verbreitungswege wie Video-on-Demand, IP-TV oder Handy-TV von dem file-basierten Material-Pool profitieren. Darin sieht man bei P7S1 den Schritt vom klassischen Fernsehen zur Multi-Plattform-Strategie: Es geht also darum, den Content mehrfach zu verwerten und auf verschiedensten digitalen Verteilwegen unters Volk zu bringen, was gerne unter dem Stichwort »360-Grad-Vermarktung« zusammengefasst wird.
Teil der Software-Architektur, mit der das zentral gespeicherte Material verwaltet und bearbeitet wird, ist auch ein umfassendes Content Management System mit Archivfunktionalität. Besonderes Augenmerk wurde laut P7S1 Produktion darauf verwendet, doppelte Datenhaltung zu vermeiden: Inhalte werden für verschiedene Vertriebswege nicht mehr kopiert, sondern jeweils direkt aus dem identischen File generiert. Zur Verwaltung von Videomaterial in Low-Res und Hi-Res kommt das Produkt Ardome von Vizrt zum Einsatz.
Playout-Center als Zukunftsbasis
Im neuen Playout-Center sieht die P7S1 Produktion nach eigenen Angaben die Basis für eine in Europa führende technologische Digital-Plattform. Da stellt sich natürlich auch die Frage, wie sich das neue Playout-Center in Unterföhring mit dem ebenfalls zum Konzern gehörenden Playout-Center von SBS im Londoner Stadtteil Chiswick (siehe Meldung) verträgt. Die offizielle Haltung dazu ist: Alle TV-Kanäle des Unternehmens sollen künftig über die zentralen europaweiten Playout-Center in München und London-Chiswick ausgestrahlt werden. Über das Unterföhringer Playout-Center soll anfangs der technische Betrieb von zwölf Sendern der Gruppe realisiert werden. Die Kapazität in Unterföhring kann aber leicht erweitert werden und könnte dann rein hypothetisch auch weitere Aufgaben übernehmen, etwa für die Sender der SBS-Gruppe mit denen die Märkte Benelux oder Osteuropa bedient werden. Hier sind also de facto alle Optionen offen, aber es gibt offenbar momentan keine Entscheidung, zu zentralisieren.
Kein Generalunternehmer, Realisierung durch BFE und IBM
Die P7S1 Produktion wählte für die Umsetzung des Projekts keinen Generalunternehmer, wie das andere Broadcaster in der jüngsten Zeit immer wieder getan hatten, sondern entschloss sich eigene Ressourcen zu nutzen und mit IBM und BFE als Partnern das Projekt zu stemmen.
IBM und P7S1 sind über dieses konkrete Projekt hinaus schon vertraglich aneinander gebunden: Die Unternehmen haben vor rund einem Jahr einen Outsourcing-Vertrag mit einer Laufzeit von zehn Jahren und einem Volumen von über 200 Millionen Euro unterzeichnet. IBM wird auf der Basis dieses Vertrags alle IT-Business-Applikationen, sowie die IT- und Mediensysteme der P7S1 Produktion übernehmen und ausbauen. Bestandteil des Vertrags ist auch, dass im ersten Quartal 2009 rund 170 Mitarbeiter von der P7S1 Produktion zu IBM wechselten. Durch die Kooperation mit IBM und die Effizienzsteigerung durch eine vollständig digitale Plattform erwartet die Gruppe Einsparungen von rund 50 Millionen Euro in den kommenden zehn Jahren.
Anspruchsvolles Projekt
Das Playout-Center und der Material-Pool sind eng miteinander verknüpft, aber es gibt weitere Anbindungen, die das Modernisierungsprojekt bei P7S1 noch anspruchsvoller machten: Die Verbindung mit den Sendeplanungs- und Rechtemanagement-Systemen der Sender-Gruppe. Hier wurden Schnittstellen und Anbindungen geschaffen, die den automatischen Datenaustausch zwischen ursprünglich unabhängigen Systemen erlauben.
Dass das neue System unterschiedliche Bildformate und Auflösungen bis HD unterstützen muss, ist heute selbstverständlich. Die dafür nötige Flexibilität und Skalierbarkeit stellte aber zusätzliche Anforderungen an die Planer.
Equipment und Abläufe
Die IT-Komponenten des neuen Playout-Centers (Netzwerk, Speicher und Server) wurden von IBM geliefert und installiert, sie werden nun auch von IBM gewartet und betrieben.
Im Ingest-Bereich des neuen Playout-Centers wird das aus verschiedenen Quellen stammende und auf unterschiedlichen Wegen angelieferte Material in das System gespielt. Gespeichert wird derzeit ein IMX50-File in einem MXF-Wrapper (MXF OP1a, SMPTE 386M mit 625i50 Payload) und parallel dazu eine Low-Res-Kopie (derzeit MPEG-1, Wechsel zu MPEG-4 geplant). Das System ist HD-fähig und nutzt für hoch aufgelöstes Material ebenfalls das MXF-Format (MXF OP1a, 1080i50, MPEG 422P@HL, I-frame-only).
Das so kodierte Material landet aber nicht nur auf dem Material-Pool und steht unmittelbar zur Verfügung, es wird auch sofort ein Backup der Hi-Res– und der Low-Res-Variante auf Datenband gesichert. Dabei laufen zwei Tape-Roboter parallel, so dass auch dieser Prozess noch einmal redundant ausgeführt ist.
Zusammen mit den Bildern werden auch die zugehörigen Töne abgelegt, und dabei eröffnet das neue System auch im Audiobereich weitere Möglichkeiten: Es stehen jeweils acht Audiokanäle zur Verfügung, so dass P7S1 jetzt durchgängig für Surround-Ton gerüstet ist.
Als Steuerung nutzt P7S1 im Ingest-Bereich das eigenentwickelte Asset Management System ProMamS, das auch die Metadaten verwaltet und parallel zu allen weiteren Prozessen mitführt.
Derzeit werden die meisten Programme immer noch auf Band bei P7S1 angeliefert. Moderner ist man im Werbebereich: Hier kommen jetzt schon rund 15 % der Werbespots als Files an. Insgesamt geht man bei P7S1 aber davon aus, dass es auch hier in der Zukunft einen relativ raschen Wechsel geben wird und schon in Kürze große Teile des Programmmaterials als Files angeliefert werden – auch wenn man einschränkt, dass Band bei der Anlieferung wohl noch für längere Jahre bestehen wird. Den HD-Anteil des Materials beziffert P7S1 auf rund 6 Prozent, die überwiegende Menge liegt also noch in SD vor, auch wenn HD durchaus vorgesehen ist.
Schon beim Einspielen läuft eine automatisierte Qualitätskontrolle auf File-Basis im Hintergrund mit, hierfür nutzt P7S1 das Tektronix-Produkt Cerify. Primetime-Programme werden zusätzlich nach dem Einspielen noch einmal in kompletter Länge von einem hierfür geschulten Mitarbeiter unter technischen Qualitätsaspekten gesichtet. »Der Faktor Mensch ist nach wie vor sehr wichtig in der Qualitätskontrolle«, so P7S1. Material, das korrigiert und bearbeitet werden muss, kann direkt auf dem Zentral-Server bearbeitet werden.
Zur Materialverwaltung und zum Content-Transfer wird die Software Ardome von Vizrt eingesetzt.
4.000 Programmstunden in voller SD-Qualität und zusätzlich 200 Stunden in HD können im Material-Pool mit der Kapazität von 138 TB online vorgehalten werden. Nicht mehr im direkten Zugriff, aber immer noch vergleichsweise rasch verfügbar, ist das Material, das auf Daten-Tape-Roboter ausgelagert wurde: Hier sind derzeit 47.000 Stunden in SD und 3.000 Stunden in HD archivierbar.
Die insgesamt vorgehaltene Speicherkapazität ist aber noch höher, denn zusätzlich zum Online-Speicher des Material-Pools gibt es weitere dezidierte Speichereinheiten, die bestimmten Aufgaben zugeordnet sind. So stehen den Ingest-Pools A-C je 4,3 TB Speicherkapazität zur Verfügung, was jeweils für 150 Stunden SD-Material reicht. Der nachgeordnete Quality Control Pool ist mit 26 TB (entsprechend 880 Stunden SD-Material) dimensioniert. Für den Playout Pool Main, Backup und Last Level of Redundancy gibt P7S1 jeweils 13 TB an (440 Stunden SD-Material).
Räumlich ist die Datenspeicherung auf dem Gelände von P7S1 in Unterföhring an verschiedenen Stellen verteilt, um einen gewissen Desasterschutz zu erreichen. Zahlreiche weitere Maßnahmen sollen flexible Havarielösungen ermöglichen, wenn einzelne Komponenten nicht mehr funktionieren sollten: Die Datenbanken und das Speicher-Management sind als Cluster ausgelegt, die Applikations-Server sind redundant ausgeführt und mit einer semi-automatischen Umschaltung ausgestattet. Auch der Online-Speicher ist als Cluster ausgeführt und es wurde Sorge dafür getragen, dass selbst beim kompletten Ausfall einzelner Hardware- und/oder Software-Komponenten weiterhin der Betrieb aufrecht erhalten werden kann: Sollte etwa Ardome und/oder der Online-Speicher ausfallen, kann weiterhin manuell Material eingespielt und in den Playout transferiert werden. Zudem kann die Playout-Automation im Notfall auch Files direkt aus den Tape-Robotern anfordern. Etliche weitere Sicherungs-, Spiegel- und Backup-Funktionen sowie Zugriffsmöglichkeiten für den Notfall sollen eine maximale Betriebssicherheit gewährleisten.
Zentrale Hardware-Komponenten von Harris
Mehr als 1.000 Hardware-Komponenten wurden im neuen Playout-Center von P7S1 installiert, ein Großteil davon in den 123 Gestellschränken. Neben den reinen IT-Komponenten sind in den Racks 34 Videoserver von Harris installiert (Nexio AMP), die für Ingest und Playout genutzt werden, da sie ja auch über die hierfür notwendigen Video- und Audioschnittstellen verfügen. Von Harris stammt auch die ADC-Automation. Weitere Komponenten der Broadcast-Infrastruktur kommen von BFE, Pro-Bel, Evertz und Tektronix.
Bei P7S1 übernimmt KSC Manager von BFE die Steuerung der Videokomponenten von Harris und der Audiokomponenten von Jünger. Außerdem steuert er den Sat-Receiver von Tandberg und die Hardboot-Stromschalter von Guntermann & Drunck.
Als Editing-System setzt P7S1 auf Velocity, weil sich diese Harris-Software am besten in das Gesamtsystem integrieren ließ. Es gibt aber bei P7S1 natürlich auch Avid-Systeme, die an das System angebunden sind und etwa HD-Material im DNxHD-Format mit 120 Mbps bearbeiten können.
Die letzte Station der Signale bevor sie auf den Weg zum Zuschauer gehen, ist das neue Playout-Center von P7S1. Dort sind die Funktionen der einzelnen Sendeabwicklungen und des Hauptschaltraums zusammengefasst. Zudem ist im neuen Playout-Center auch die Supervisor-Instanz integriert. An einem separaten Desk überwachen besonders geschulte Mitarbeiter die Arbeit der einzelnen Sendeabwicklungen und können jedes Signal auf diesen Arbeitsplatz ziehen, um es genauer unter die Lupe nehmen und Probleme analysieren zu können.
Die Echtzeit-Grafiken werden mit Vizrt Pilot und Vizrt Engine bereitgestellt. Die Steuerung der Playout-Komponenten erfolgt über die Sendeautomationslösung ADC-100 von Harris. Das Monitoring der Signale läuft über die Multiviewer-Lösung NBMS von Barco.