IBC2014: Broadcasting ohne Broadcaster?
Es wird viel über die Zukunft geredet, bei der diesjährigen IBC — das wird schon nach den ersten Pressekonferenzen klar, auf denen mitunter recht steile Thesen dargeboten wurden.
Welche Bedeutung wird das klassische, lineare Fernsehen in der Zukunft haben? Das ist eine Frage, um die vieles in der Branche kreist und die viele andere Fragen nach sich zieht. Die Antworten sind vielfältig, aber eines scheint sich herauszukristallisieren: Viele gehen davon aus, dass sich der Fokus großer Medienunternehmen in den kommenden Jahren von dem entfernen wird, was heute im Zentrum steht und als klassisches Broadcasting verstanden wird: Das Betreiben eines oder mehrere Fernsehkanäle, die man mit Content füttert, den man dann via Terrestrik, Satellit oder Kabel verteilt. Die meisten in der Branche gehen dabei aber offenbar davon aus, dass es dieses Modell und diese Verteilwege weiter geben, dass sich jedoch der Fokus verschieben wird.
Einen ersten Hinweis darauf gibt das »Screen Stacking«, wie es neuerdings genannt wird, wenn die Endkunden mehrere Schirme gleichzeitig nutzen, also etwa Smartphone und Tablet benutzen, während sie gleichzeitig Fernsehen. So erklärte etwa Charlie Vogt, der CEO des Harris-Nachfolgeunternehmens Imagine Communications, dass bereits 75 % der Zuschauer das täten — allerdings war aus den Charts die er zeigte, nicht zu erkennen, wo diese Zahl herkommt und worauf sie sich bezieht.
Zum gleichen Themenkomplex sagt etwa Joop Janssen, CEO von EVS, dass sich die Gewichtung in Zukunft verschieben werde: Aus dem, was die Mitglieder der Broadcast-Welt momentan als »Second Screen« betrachten, werde auf mittlere Sicht der »First Screen« werden: Smartphone und Tablet werden demnach die Oberhand gewinnen und zum wichtigsten Medium werden. EVS kann hierbei schon auf eigene Erfahrungen zurückblicken, denn auf der C-Cast-Technologie des Unternehmens beruhte praktisch jede einzelne der sehr erfolgreichen Fußball-WM-Apps, die von diversen Fernsehsendern weltweit angeboten wurden.
Folgt man dieser Sicht, dann müssen sich die Broadcaster umstellen, und nicht wie bisher den Hauptfokus auf das TV-Programm legen und dieses dann per Streaming und Video-on-Demand zweitverwerten, sondern die bisherigen Second-Screen-Aktivitäten mindestens gleichwertig behandeln und stärker in den Fokus nehmen.
Dazu passt es, wenn Bob DeHaven, General Manager für den Telco-Bereich bei Microsoft, prognostiziert, dass im Jahr 2017 rund 85 % des Web-Contents Video sein wird. Es könnte also sein, dass in Zukunft zwar immer mehr Video produziert und verteilt wird als je zuvor, aber eben nicht mehr überwiegend über das klassischen Fernsehen.
Moment mal: Wie soll denn das gehen, wenn etwa bei Olympischen Spielen und Fußball-WMs viele Millionen Zuschauer weltweit gleichzeitig Live-Bilder sehen wollen? Dafür ist doch klassisches Fernsehen optimal geeignet, oder? Das stimmt schon, aber man kann bei allen Sendern, ob öffentlich oder privat finanziert, klar erkennen, dass die anderen Verbreitungswege auch auf der Senderseite als zunehmend wichtiger und zukunftsträchtig gesehen werden — unter anderem weil man damit jüngere Zielgruppen besser erreicht.
Wie also soll die Hersteller- und die Anwenderseite im Broadcast-Bereich darauf reagieren? Es müsse Hybrid-Lösungen geben und integrierte Workflows, die alle Verbreitungswege gleichberechtigt behandeln, ist da oft zu hören. Das Ganze möglichst auf Standard-Computer-Hardware realisiert und so umgesetzt, dass Technik und Redaktion/Management eines Senders an ganz verschiedenen Standorten eng kollaborieren können. Virtualisierung und Cloud lauten hier die Stichworte.
Damit könne man so weit kommen, erläutert Charlie Vogt von Imagine Communications, dass man innerhalb weniger Stunden einen neuen Kanal aufsetzen und On Air bringen könne. Was aber sollte dann Content-Besitzer aller Couleur, etwa Sport- oder Konzertveranstalter, noch davon abhalten, selbst auf allen Kanälen ihre Inhalte zu verbreiten? Broadcasting ohne Broadcaster also?
Ob es je so weit kommen wird, bleibt abzuwarten, aber die Ideen sind da. Um noch einmal sinngemäß Charlie Vogt zu zitieren, der aus dem Telco-Bereich kommt: Die Telco-Branche hat viele Jahre auf die Sprache als Killer-App gesetzt, bis sie herausfand, dass Video die wirkliche Killer-App für den Telco-Markt ist.
Was sagt uns das alles? Die Branche ist in Bewegung — und das vielleicht stärker, als noch vor ein paar Jahren. Und natürlich muss man eine Perspektive haben, wenn man motiviert voranschreiten und innovativ in die Zukunft gehen will. Deshalb ist es wichtig, schon heute die Weichen zu stellen und durchaus mit visionärem Blick auf das zu blicken, was kommen soll und kann. Dafür ist eine Messe wie die IBC natürlich ein guter Ort.
Vielleicht wird dabei aber sogar ein bisschen zu viel in die Zukunft geblickt und zu wenig auf die Gegenwart, auf die Wirklichkeit der Kunden und auf real existierende Produkte. Schließlich kann die Branche nur dann in eine schöne Zukunft blicken, wenn die Gegenwart richtig gestaltet wird.
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