Infos und Filmtipps für das 38. Internationale Dokfest München
Das Dokfest München startet mit 130 Dokumentarfilmen aus 55 Ländern in Münchner Kinos und Event-Locations — sowie per Streaming. Hier gibt es dazu Infos und Filmtipps.
Heaven can Wait – Wir leben jetzt
Deutschland 2023 / 120 Minuten / dtOF
Inhaltliche Einordnung: Leben im Alter, Musik
Der Film beginnt mit dem, was man üblicherweise aus einem Film herausschneiden würde: Ältere Protagonisten fragen vor der Kamera, ob sie richtig im Bild sind, wo sie hinschauen sollen, oder sie bewundern einfach nur die für uns Zuschauer unsichtbaren Akteure hinter der Kamera, bestaunen, was die alles aufgebaut haben und wie sie auf der Erde hocken.
Beim Schminken erklärt eine weitere Protagonistin: »Das wird ein Film über unseren Chor, ein Kinofilm wird das.« Und das ist es tatsächlich geworden! »Heaven Can Wait« ist ein Hamburger Seniorenchor, Aufnahmebedingung 70+, und in ihm kommen die unterschiedlichsten Menschen diverser Sozialschichten zusammen. Heimatort ist das St. Pauli Theater.
Die Struktur ist schnell klar, und der Film nutzt die Möglichkeit, zwischen Auftritten, Proben und sehr vielen Protagonisten hin und her zu springen, und bringt in den zwei Stunden Laufzeit die geballte Lebensweisheit und Erfahrung zu den unterschiedlichsten Themen zusammen. Immer wieder tut sich etwas Neues auf in den Lebensläufen der Chormitglieder.
In der Corona-Pause bekommen sie Kameras, mit denen sie sich selbst filmen können — und es entstehen dabei Szenen, die ein Filmteam nicht aufnehmen könnte, denn die Seniorinnen und Senioren sind schonungslos mit sich selbst und präsentieren sich in ihrer ganzen Gebrechlichkeit. Wenn es ums Sterben geht, dann ist die Grundeinstellung: sie wollen selbst entscheiden.
Dieser Film blickt so dynamisch und optimistisch aufs Alter, dass es eine Wohltat ist – leider in einer Ausnahmesituation.
Sehwert *****
The Golden Thread
Niederlande, Norwegen, UK 2022 / 86 Minuten / OmeU
Inhaltliche Einordnung: Industriearbeit, Indien
Jute ist eine bis zu 3 m hohe Pflanze, deren Fasern zu Fäden gesponnen werden können. Vom Wachsen der Pflanze bis zum fertigen Jutesack zeigt dieser Film das Entstehen des Produkts in einer indischen Fabrik, der Hukumchand Jute Mill, in der zu den besten Zeiten bis zu 30.000 Arbeiter beschäftigt waren.
Die Kamera folgt Arbeitern und Arbeiterinnen auf dem Weg in die Fabrik, wie sie ihr Fahrrad durch endlose Gänge in einer gigantischen Halle schieben, um dann ihren Arbeitsplatz zu erreichen. In langen Reihen stehen mit Transmissionsriemen angetriebene Maschinen, die zum Teil aus dem Jahr 1909 stammen. Der Film ist letztlich ein Blick zurück in eine Fabrik des 19. Jahrhunderts, mit viel Aktion, und alles ist bis ins Detail zu sehen: Es staubt und lärmt, und überall stehen Bündel von Jute in unterschiedlichen Verarbeitungsstufen.
Erst nach 20 Minuten hört man den ersten O-Ton, und im Folgenden kommen einzelne Personen immer intensiver ins Blickfeld. Der Film entfaltet, wenn man sich auf ihn einlässt, einen Sog, auch weil seine Bilder so opulent sind und unmittelbar am Herstellungsprozess bleiben. Keine Arbeitsschutzabdeckungen und Blackboxen behindern den Blick.
Sehwert *****
Matter Out of Place
Österreich 2022 / 106 Minuten / OmeU
Inhaltliche Einordnung: Umwelt, Natur
In »Matter out of place« wird als solches alles definiert, was nicht da war, bevor die Menschen kamen. Der Film führt uns in zehn Gebiete, in denen der Mensch sehr viel zurückgelassen hat, was dort also dieser Definition nach nicht hingehört.
Zunächst sehen wir in eine eindrucksvolle Schlucht mit einem Bergsee, und als die Kamera näher heran springt, entpuppt sich das Strandgebiet als Insel aus Plastikmüll. Ein Bagger rollt auf eine landwirtschaftliche Wiese und setzt die Schaufel auf ein mit blauen Strichen markiertes Rechteck, hebt die Grasdecke weg und gräbt sich tiefer in den Boden. Mit jeder Schaufel werden immer mehr Restmüllgegenstände zu Tage gefördert, bis zu ganzen Autoreifen. Unter der Wiesenfläche liegt eine alte Müllkippe.
All diese absurden Situationen bekommen wir in wenigen, gut kadrierten Bildern aufgetischt, und man bleibt deshalb dabei und will den Situationen lange zuschauen — wenn beispielsweise ein Müllzerkleinerer einen Haufen Sperrmüll aus Möbeln, Matratzen, Plastikschüsseln und mehr langsam in sich hinein frisst.
Worum es sich eigentlich handelt und dass es auch anders geht, das erfahren wir erst beim Burning Man Festival in Nevada: Kaum sind die Gäste abgereist, bilden die Helfer Menschenketten und suchen den Wüstenboden noch nach den kleinsten Überresten ab. »Wir hinterlassen keine Spuren«, sagt der Instrukteur.
Sehwert *****
Homo Sapiens
Österreich, Deutschland 2016 / 94 Minuten / dtOF
Inhaltliche Einordnung: Verlassene Orte
Diesen Film hätte man auch »Lost Places« nennen können, denn genau um die geht es: um Orte, die verlassen und dem Zerfall Preis gegeben wurden und die sich die Natur Stück für Stück wieder aneignet. Es sind Plätze, an denen die Zivilisation gescheitert ist.
Am eindrucksvollsten sind natürlich diejenigen, von denen die ehemaligen Bewohner Hals über Kopf fliehen, alles stehen und liegen lassen mussten, so, als wären sie nur eben zur Arbeit gegangen. Die Atomkatastrophen von Fukushima und Tschernobyl haben zwei riesige solche Areale entstehen lassen.
Das Rezept des Films ist denkbar einfach, aber meisterhaft umgesetzt: Eine statische Kamera, keine Schwenks oder sonstigen Bewegungen. Lebende Fotos von der ungefähren und variierenden Länge einer halben Minute reihen sich aneinander. Wir sehen Büros, Schulen, Krankenhäuser, Kirchen, Discos, Bahnhöfe, ein Gefängnis, ein Schlachthaus, einen Bunker, ein Kriegsschiff …
Besonders aufwändig ist der Ton bearbeitet und kann in ausgewählten Kinos in Dolby Atmos genossen werden.
Sehwert *****
Eigentlich Eigentlich Januar
Deutschland 2022 / 100 Minuten / dtOF
Inhaltliche Einordnung: Tagebuchfilm, Experimentalfilm
Der Filmemacher ist einer der wenigen, die noch eine analoge Kamera benutzt, bevorzugt in Super8. Schwarzweiß- und Farbmaterial werden gemischt, es wird zudem Filmmaterial mit lange abgelaufenem Mindesthaltbarkeitsdatum verwendet.
Die Struktur der zusammengefügten »Tagebuchfilme« ist einfach: Immer eine Drei-Minuten-Rolle nach der anderen, geschnitten wird dabei direkt in der Kamera.
Komplizierter ist die Textebene aus pausenlos eingesprochenen Reflexionen, die als literarische Texte Bestand haben und deren Aussagen relativiert werden, indem in einer zweiten Textebene geflüsterte Wahrheiten eingebaut sind, die die Dinge richtig stellen und auch einen Blick hinter die Entstehung des Filmwerks geben.
Der Januar gibt den Entstehungszeitraum und die Länge vor: 31 Rollen, die dann aber doch bis in den März hinein entstehen. Inhaltlich beschäftigt sich der Film neben Alltäglichem auch mit dem Medium selbst, mit Beginn des Dokumentarfilms in Flahertys »Nanuk« und mit Fotografien in Familienalben.
Sehwert ****
Auf der Kippe
Deutschland 2023 / 86 Minuten / dtOmeU
Inhaltliche Einordnung: Kohleausstieg, Strukturwandel
Das Braunkohlerevier mit seinen Kraftwerken an der Oberlausitz steht nach einem vorgezogenen Kohleausstieg für das Jahr 2030 vor wahrscheinlich sehr schwer lösbaren Problemen. Die Betroffenen fragen sich, wie der Strukturwandel in der verbleibenden knappen Zeit gelingen kann.
Im Film kommt eine Baggerfahrerin des Tagebaus vor, der Bürgermeister von Weißwasser, eine Familie, die vom Abriss bedrohten Haus in einen Neubau umzieht, und eine Aktivistin, die auf den schnellen Kohleausstieg drängt. Die Region der Oberlausitz wird nach dem DDR-Ende zum zweiten Mal fundamental von einem Umbruch getroffen.
Sehwert ****