Die Bären sind verliehen, Dieter Kosslick geht
Wieder einmal hat sich eine Berlinale-Jury über jeden Verdacht hinweggesetzt, dem Mainstream hörig zu sein. Unter der Leitung von Juliette Binoche folgte man dem vom scheidenden Festivaldirektor Dieter Kosslick ausgerufenen Jahrgangsmotto »Das Private ist politisch«.
Der Goldene Bär geht 2019 an die Produzenten von »Synonymes« nach Israel. Nadav Lapid erzählt in der Koproduktion mit Frankreich und Deutschland die Geschichte eines jungen Mannes, der nach Paris migriert und seine israelische Identität ablegen will.
Sehr stark und positiv beachtet – auch von der Kritik – wurde der deutsche Beitrag »Systemsprenger«. Die Ehrung mit dem Silbernen Bären (Alfred-Bauer-Preis) gilt einem Film, »der neue Perspektiven eröffnet« und der Regisseurin und Autorin Nora Fingscheidt. Ihr Kinodebut bekam auch den Leserpreis der »Berliner Morgenpost« und kommt im Herbst ins Kino. Der Silberne Bär »für eine herausragende künstlerische Leistung« wurde der Kameramann Rasmus Videbæk für seine Bildgestaltung der norwegisch-schwedisch-dänischen Koproduktion »Ut og stjæle hester« (Out Stealing Horses/Pferde stehlen) zugesprochen. Die Liste aller Preisträger 69. Berlinale 2019 findet sich auf der Berlinale-Website.
18 Jahre Dieter Kosslick
Dieter Kosslick (71) verlässt die Berlinale nach 18 Jahren und mit ihm verliert das Festival nicht nur sein munterstes Aushängeschild. Er hat das Festival an gesellschaftlichen Debatten und deren filmischer Widerspiegelung orientiert. Deutschland und Europa haben mehr Raum bekommen. Diese Bodenständigkeit verlängerte zur Basis des Kinogenusses: Mit »Berlinale goes Kiez« rollte Kosslick den Roten Teppich vor den Programmkinos außerhalb der Festival-Zentren aus. Nachhaltigkeit findet u.a. im »kulinarischen Kino« eine Entsprechung. Frauen haben eine höhere Aufmerksamkeit im Programm und eine tragende Rolle in den Auswahlgremien bekommen. Die Kinofans haben erkannt: Unter der Leitung Kosslicks wurde die Berlinale zum weltgrößten Publikums-Filmfestival: 335.000 Tickets wurden verkauft. Und dennoch musste sich Kosslick die Kritik gefallen lassen, er halte Mainstream-Kino vom Festival fern.
Der World Cinema Fund bringt Koproduktionen mit Asien, Afrika, Süd- und Mittelamerika in Gang. Gestandene Profis geben ihre Erfahrungen seit 2003 an die Berlinale Talents weiter. Highend-Serien haben einen Pitch-Platz beim European Film Market. Dort wurde der Branche eine breite angelegte Plattform gebaut, die u.a. auch auf die aktuell diskutierten Technik-Trends eingeht. 22.000 Fachbesucher uas 135 Ländern besuchten Berlin.
Die Berlinale ist digitales Kino
Ohne öffentliches Trara wurde die Berlinale unter Dieter Kosslick digital. »So viel Video war nie« und »ungefähr jede fünfte der 1.256 öffentlichen Vorführungen …wurde … nicht als Filmkopie gezeigt…«, hatten wir 2008 erfahren. Damals mussten Player und Projektoren für eine Vielzahl digitaler und analoger Band- und anderer Formate vorgehalten werden; allein der organisatorische Aufwand war riesig. Immerhin hatten drei Wettbewerbskinos schon damals 2k-Projektoren.
Heute sind 2k und DCI Kino- wie Berlinale-Standard, auch in der Anlieferung. Einige Säle werden für das Festival noch aufgerüstet: 4k-Laserprojektionen gab es für die ganz großen Leinwände. Für das gute Bild, den guten Ton, treibt das Festival schon im Vorfeld und mithilfe zahlreicher Partnerfirmen hohen Aufwand. Die Mitarbeiter des Filmbüros arbeiten die Filmdaten korrekt auf. Sie sorgen dafür, dass sie per Glasfaser zur rechten Zeit am rechten Ort verfügbar sind und dafür, dass die Sicherheitsansprüche der Produzenten gewahrt werden.
Führungsduo am Start
Als Nachfolger steht ein Duo in den Startlöchern. Die neue Geschäftsführerin Mariette Rissenbeek kommt von der Auslandsagentur German Films. Künstlerische Verantwortung übernimmt der bisherige Leiter des Locarno-Festivals Carlo Chatrian. Man wird sehen, womit sie die Filmfans und die Fachwelt überraschen. Die Erwartungen sind hoch.
»Filmische« Herausforderungen gibt es genug. Was bringen Breitbandnetze, Virtual Reality, 360 Grad-Filme, künstliche Intelligenz für die audiovisuelle Kreation, Produktion und Vermarktung? Und wie kann das Festival darauf eingehen? Mit dem Wettbewerbsbeitrag «Elisa y Marcela», welchen der Auftraggeber Netflix den Kinos außerhalb des Ursprungslands Spanien vorenthält, hatte Kosslick eine Grenzüberschreitung markiert. Sind Netflix & Co. überhaupt bereit, sich den europäischen Regeln zum Schutz und zur Entwicklung der Kino- und Filmlandschaft zu unterwerfen und sich z.B. (wie TV-Sender, Produzenten, Kinos, Filmverleiher, Videoverwerter das tun) an der Branchenfinanzierung der deutschen Filmförderung zu beteiligen? Oder bringen sie Filme nur im Herstellungsland ins Kino, um dort Fördermittel abzugreifen und sich ansonsten mit Auszeichnungen zu schmücken? Darf ein (Kino-) Filmfestival diese Strategie belohnen? Soll Berlin den Weg von Venedig gehen, wo ein Netflix-Auftrag den Hauptpreis gewann? Werden Rissenbeek und Chatrian die Mauer vor Fernsehen und Streamer-Produktionen weiter einreißen oder konsequenter das Kino stützen?
Eines der heißen Themen wurde bereits vorab gelöst: Damit am 9. Februar 2020 kein VIP der Oscar-Verleihung entfliegt, wurde die Berlinale nach hinten verlegt. Das 70. Festival-Jubiläum wird vom 20. Februar bis 1. März 2020 gefeiert.