Selber Regie führen: bald bei Netflix?
Netflix hat dieser Tage angekündigt, im neuen Jahr interaktive Serien und Filme auch für Erwachsene anzubieten. Die Zuschauer können dabei während des Films entscheiden, in welche Richtung sich die Story weiterentwickeln soll — und somit letztlich aus mehreren Handlungssträngen wählen.
Erste Erfahrungen mit diesem Genre hat der Streaming-Anbieter schon selbst gesammelt: Mit »Der gestiefelte Kater« hat Netflix eine Kinderserie im Programm, bei der die jungen Zuschauer den weiteren Verlauf der Geschichte beeinflussen können, indem sie Entscheidungen für eine Figur treffen.
Interaktivität ist beim Spielfilm kein völlig neues Thema: Schon sehr früh hatten Kreative im Filmbereich die Idee, den Zuschauern alternative Handlungsverläufe oder alternative Enden eines Films anzubieten.
Solche interaktiven Ansätze sind bei Filmen oder Serien allerdings mit erheblich höherem Aufwand verbunden. Man muss mehrere Versionen produzieren und es gibt gestalterische und auch technische Hürden in der Aufbereitung und auch in der Vorführung. So unterstützen eben nicht alle Endgeräte die elegantesten Formen dieser Funktionalität. Netflix selbst sagt auf seiner Website zum derzeit verwirklichten, eigenen Ansatz: »Auf der Netflix-Website sowie auf Android-Geräten, Chromecast und Apple TV werden interaktive Inhalte derzeit nicht unterstützt.«
Trotz solcher Einschränkungen sieht Netflix offenbar dennoch Potenzial in der interaktiven Erzählform und will im kommenden Jahr nun auch einige interaktive Filme und Serien für Erwachsene anbieten. Mehr Details dazu hat Netflix noch nicht verraten – vielleicht auch deshalb, weil es möglicherweise noch gar nicht so viele Details dazu gibt? Es dürfte in jedem Fall aber ein spannendes Projekt für die Filmemacher werden, die das bei den ersten Serien und Filmen umsetzen sollen.
Dabei können sie auf die Erfahrungen etlicher Tests und Versuche aus der Vergangenheit zurückgreifen, denn wie schon erwähnt: Vollkommen neu ist das Thema Interaktivität im Spielfilm nicht, sondern es poppte schon im Kinobereich, im Fernsehen, im Video- und im Spielemarkt immer mal wieder hoch.
So initiierten etwa der WDR und das ZDF schon Ende der 80er Jahre mit dem TV-Film »Mörderische Entscheidung«, eine Variante des interaktiven Films mit zwei unterschiedlichen Filmversionen, die jeweils die Sicht eines der beiden Hauptprotagonisten wiedergab. Der damals noch relativ unbekannte Regisseur Oliver Hirschbiegel führte Regie. ARD und ZDF strahlten den Film zeitgleich in den unterschiedlichen Fassungen aus, der konnte hin- und herzappen und befand sich immer am selben Punkt der Handlung.
Mit neuen technischen Möglichkeiten tauchte das Konzept hie und da immer wieder auf: etwa bei »Make my Day«, einem interaktiven Spielfilm, der 2004 auf DVD erschien und zahlreiche Eingriffsmöglichkeiten in die Handlung bot.
Einen interaktiven Ansatz verfolgten 2012 die polnische Produktion »Sufferrosa« oder 2016 die Schweizer Produktion »Late Shift«, die es nach Erscheinen des Films auch als App sowie als Spiel für gängige Konsolen gab.
Spielte hier die Anbindung weiterer Plattformen eine zentrale ein Rolle, verfolgte der Fernsehfilm »Terror – Ihr Urteil« im vergangenen Jahr einen anderen Ansatz: Nachdem ARD, ORF und SRF den Film ausgestrahlt hatten, konnten die Zuschauer gewissermaßen »ihr Urteil« fällen und für einen Frei- oder einen Schuldspruch des Hauptdarstellers votieren. Im Anschluss wurde das gefällte und verkündete Urteil dann in Talkshows bei den Sendern kontrovers diskutiert – und natürlich auch auf den Social-Media-Kanälen.
Vielleicht kann man es so zusammenfassen: Neue technische Möglichkeiten können auch interaktive Filme beflügeln und neue und vielfach spannende Möglichkeiten für die Filmproduktion schaffen. Ob Netflix daraus ein Massenprodukt machen kann und will, wird sich zeigen. Doch immerhin: Offenbar ist man beim Streaming-Anbieter Netflix auch bereit, ein Risiko einzugehen. Von den etablierten, großen US-Studios etwa, kann man das hingegen derzeit ganz sicher nicht behaupten …
Sie werden sehen.
Christine Gebhard, Gerd Voigt-Müller