Die virtuelle Schlangenlederjacke
In »Wild at Heart«, einem Film von David Lynch aus dem Jahr 1990, trägt Nicholas Cage in der männlichen Hauptrolle eine Schlangenlederjacke, die — ohne sich zu weit aus dem Fenster zu lehnen — nicht erst aus heutiger Sicht von eher zweifelhaftem modischem Wert ist. Wenn diese Jacke im Film angesprochen wird, erklärt ihr Träger jedes Mal, die Jacke sei Ausdruck seiner Individualität und seines Glaubens an die persönliche Freiheit.
Die Zeiten ändern sich und so verschieben sich Wertesysteme und mit ihnen wandeln sich auch deren Symbole und Insignien — auch dergestalt, dass etwa Kleidung, Tätowierungen oder die Wahl eines bestimmten Autos heutzutage mitunter für gar nichts mehr stehen, keine Haltung repräsentieren, sondern nur noch als rein modische Entscheidungen für sich selbst stehen.
Dennoch — oder vielleicht sogar um so mehr — bleibt Individualität in unserer Gesellschaft ein hohes Gut und sucht sich zahllose Ventile. Weil Schlangenlederjacken aber nicht jedermanns Sache sind und wir generell im Zeitalter zunehmender Virtualisierung leben, werden nun eben sozusagen virtuelle Schlangenlederjacken getragen. Das kann seinen Niederschlag etwa auf Facebook-Seiten finden, sickert aber auch in viele andere Bereiche durch.
So eröffnet dem kreativen Individualisten selbst die Auto-Reply-Funktion in der E-Mail-Kommunikation mannigfaltige Möglichkeiten. Eigentlich würde es ja reichen, wenn der Absender erfährt, dass der Adressat etwa im Urlaub, auf Dienstreise oder nicht mehr im Unternehmen ist. Stattdessen erfahren wir: »Ich bin auf einer Recherchereise durch Patagonien zum Thema Alien-Kontakte in Südamerika an Fleckfieber erkrankt, habe deshalb meinen Flug verpasst, aber im Krankenhaus die Frau meines Lebens kennengelernt. Ich kann mich voraussichtlich erst ab April 2014 wieder melden. In dringenden Fällen kontaktieren Sie bitte meine Agentin und Ex-Frau.« Und natürlich wurde diese Mitteilung aus der Wildnis »Gesendet von meinem iPad über die Trans-Americana-Cloud-Services mit Viren-Check«. Vielleicht freuen sich enge Freunde über solche Informationen — aber für den Rest der Welt gilt doch: Wer will das wissen?
Schön sind auch automatisierte Bestätigungs-E-Mails, die man vielleicht von einem Amt oder einer Bank erhalten möchte, aber sicher nicht als Auto-Reply von Ansprechpartnern, mit denen man häufiger kommuniziert: »Wir haben Ihre E-Mail erhalten. Wir sind gerade im Auftrag unserer Kunden unterwegs und melden uns in Kürze persönlich bei Ihnen«. Danke für diese Null-Information — Nullwert deshalb, weil die angekündigte Rückmeldung auch deshalb niemals eintreten wird, weil man ja heutzutage nur so mit E-Mails zugemüllt wird und zu gar nichts mehr kommt …
Sie werden sehen.
P. S.: Die Grußzeile unserer Editorials ist übrigens Ausdruck der Individualität und des Glaubens der Autoren an die persönliche Freiheit.