Branche: 04.05.2011

Filmtipps fürs Dokfest München

Vom 4. – 11. Mai 2011 findet das 26. Dokfest München statt. Im Rahmen dieser Veranstaltung gibt es einige interessante Diskussionsveranstaltungen und viele interessante Dokumentarfilme. Eine subjektive Auswahl und Bewertung für Interessierte.

 
AG-Dok-Filmgespräch

Am Samstag, 7. Mai geht es im AG-Dok-Filmgespräch um das Thema »Protagonisten – ambivalente Helden«. Die Diskussionsveranstaltung beginnt um 14.00 Uhr im Filmmuseum (Eintritt frei) und will unter anderem die Frage aufgreifen, wie Dokumentarfilme das Leben ihrer Protagonisten verändern: Protagonisten in Dokumentarfilmen stehen oft von heute auf morgen mit ihrer persönlichen Lebensgeschichte in der Öffentlichkeit. Wer sich vor der Kamera öffnet, muss mit Reaktionen von Nachbarn, Freunden, Arbeitgebern oder ganzen Gemeinden rechnen. Der Filmemacher will eine spannende Geschichte erzählen und dafür Aspekte seiner Protagonisten betonen oder auslassen. Er muss ein Gespür für die Grenzen seiner Protagonisten entwickeln, wenn er ihnen nicht schaden will.

Wenn die Grenzen nicht eingehalten werden, kann die öffentliche Aufmerksamkeit Familiendramen oder andere Katastrophen auslösen. Immer wieder müssen sich Dokumentarfilmer fragen, wie weit sie gehen können oder ob sie ein Projekt frühzeitig abbrechen müssen, um ihre Protagonisten oder auch deren soziales Umfeld zu schützen.

Die Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm lädt zum Podiums-Gespräch mit Protagonisten aus Dokumentarfilmen und ihren Filmemachern ein, um über die Verantwortung des Filmemachers für seine Protagonisten zu diskutieren.

Persönliche Filmtipps des Autors Hans-Albrecht Lusznat

El Bulli – Cooking in progress

Eine Beobachtung des Kochs Ferran Adrian (Molekularküche) und seines Teams bei der Arbeit. Das Drei-Sterne-Restaurant El Bulli ist nur sechs Monate geöffnet. In der restlichen Zeit zieht der Meister mit seinen Köchen in ein Labor und entwickelt ein neues Programm – und dabei lässt er sich von der Kamera zusehen. Interessant ist der Film für Koch- und Ferran-Fans sowie Gourmets, die das Außergewöhnliche suchen. Aber lernen kann man bei dem Film eigentlich nichts und weiterführende Erkenntnisse gewinnt man auch nicht — bis auf die eine: Man kann alles auf die Spitze treiben.

Bad Boy Kummer
Mehrere Jahre belieferte der Schweizer Tom Kummer Zeitungen (vor allem das SZ-Magazin) mit erfundenen Starinterviews aus Hollywood. Nachdem der Schwindel aufflog, arbeitete Kummer als Tennistrainer. Im Film hat Kummer noch mal eine Bühne, um sich selbst darzustellen, auch als Videokünstler, der er so nebenbei sein wollte.

Leider verpasst der an sich interessante Film die Chance, sich das System des Prominenten-Journalismus in seiner Struktur und Alltäglichkeit vorzunehmen, die dann Erscheinungen wie Kummer hervorbringt. Auch die Frage, wieweit der Journalismus heute Spielball einer PR-Maschine ist, bleibt ungeklärt. Stilistisch hat sich der Film an den Boulevard-Journalismus angepasst.

Nargis – When time stopped breathing
Zyklon Nagis war 2008 einer der schlimmsten Naturkatastrophen, die die Region Myanmar (Burma) traf: mit geschätzten 100 000 Toten. Der Film zeigt in einer stoischen Ruhe, ganz gegen die Gewohnheiten üblicher Berichterstattung die Alltagsprobleme nach einer Naturkatastrophe: Sehenswert.

Khodorkovsky
Einer der reichsten Männer Russlands gerät in die Mühlen der Justiz und wird zweimal mit fadenscheiniger Begründung verurteilt. Gespräche mit zahlreichen Involvierten — auch mit Joschka Fischer. Der Autor bekommt sogar ein Interview mit Khodorkovsky.

9 Leben
Neun Punks und ehemalige Straßenkinder erzählen, isoliert vor der weißen Hohlkehle eines Studios, ihr Leben. Viele sind als ungeliebte Kinder aufgewachsen, oft war Alkohol im Spiel. Durcheinander geschnitten schälen sich sehr individuelle Porträts heraus — auch wenn man als Betrachter nicht unbedingt hinter die Systematik kommt, die der strenge Formwille vermuten lässt: Sehenswert.

Over your cities grass will grow
Der Künstler Anselm Kiefer hat in der französischen Provinz eine Art unterirdischen Kreuzgang geschaffen, auf dessen Durchbrüchen zur Oberfläche er Kapellen mit Kunstwerken errichtet hat (Ribes Hautes – 30430 Barjac, Frankreich).

Der Film besteht zum großen Teil aus schwebenden Aufnahmen seiner Gänge und Werke. Der Louma-Kran ist ein schönes Gerät, weil er die Kamera nicht nur auf- und abschweben lassen kann, sondern auch unter dem Drehen teleskopierbar ist. Der Film zeigt eine Menge wunderschöner Kranaufnahmen — und die Musik versucht, eine bestimmte Stimmung zu suggerieren.

Nebenbei ist der Film ein Lehrbeispiel dafür, wie ein Interviewer mit seiner Klugheit ein Gespräch ersticken kann und so die wahrscheinlich einzige Chance eines Interviews vergeigt. Trotzdem: Sehenswert.

Die Schützes – Leben nach der Wende 1990 bis 2010

Bei der Wende sind die Schützes als selbstständige Unternehmer ganz vorne mit dabei und treiben den Umbau zur Marktwirtschaft mit voran. Schließlich werden sie von selbiger überrollt und bleiben als Opfer zurück. Eine Langzeitbeobachtung, die der Autor dieser Zeilen als Kameramann realisierte — und natürlich auch sehenswert findet.

Not without you
Das niederländische Künstlerehepaar aus dem Maler Ger Lataster und der Fotografin Hermine van Hall, wird vom Sohn und der Schwiegertochter im Alltag beobachtet. Sie ist schwerhörig und kämpft mit der Vergesslichkeit. Er, Jahrgang 1920, ist nicht mehr gut zu Fuß, arbeitet aber noch immer intensiv im Atelier. Wunderbar ist eine Szene, in der sie in ihrer Vergesslichkeit mit den Enden eines Gartenschlauchs kämpft und er es später in einem Bild festhält: Sehenswert.

Adopted
Einsame Europäer können in einem Programm von ghanaischen Familien adoptiert werden und gehen als Patenkinder nach Afrika. Der Film begleitet drei Personen aus Deutschland bei diesem Experiment. Man erlebt das Aufeinanderprallen der kulturellen Unterschiede, ein Bemühen und Scheitern: Sehenswert.

Wadans Welt
Eine Langzeitbeobachtung auf der Wadan-Werft in Wismar/Warnemünde. Fünf Schweisser erleben den Gang durch eine Insolvenz, sind arbeitslos und nach der Übernahme der Werft durch einen Investor werden einige wieder eingestellt. Die Arbeit ist nur mehr Spielball anderer Interessen. Leider nervt die Musik in den Filmteilen, in denen der Wadan/Wotan-Mythos erklärt wird: Sehenswert.
 
All for the Good of the World und Nosovice
In der tschechischen Provinz wird ein Hyundai-Autowerk auf die Äcker gestellt. Erst verlieren die Bauern auf Druck der arbeitswilligen Mehrheit ihr Land, dann leiden die Arbeitenden unter den Produktionsbedingungen, während die Bauern zu reichen Erwerbslosen geworden sind. Eine verquere Welt, in der es zunächst lustig zugeht, bis einem das Lachen im Halse steckenbleibt. Gut fotografiert: unbedingt sehenswert.

Off the Beaten Track
Der Film beobachtet eine Gruppe von Schäfern in Rumänien. Der Beitritt zur EU ermöglicht es, dass einige Frauen zur Ernte nach Deutschland fahren und Geld mitbringen. Dadurch verändert sich die Ökonomie. Eine schön fotografierte Beobachtungen des Alltags über ein Jahr hinweg: Sehenswert.

Waste Land
Der brasilianische Künstler Vik Munitz ist mit seinen nachgestellten Kunstwerken weltberühmt geworden. Der Film beobachtet ihn bei einem besonderen Projekt. Zusammen mit Abfallsortierern der größten Müllkippe in Brasilien erschafft er aus Fotografien und Müll auf dem Boden einer Halle riesige Bilder, deren Reproduktionen dann auf einer Kunst-Auktion sehr viel Geld einbringen. Das Geld reicht er an die Gemeinschaft der Müllsortierer weiter. Ein interessanter Eingriff in das Leben der anderen: Sehenswert.

Auf Teufel komm raus  
Karl D., mehrfach verurteilt als Sexualstraftäter, wird nach der Haft von seinem Bruder aufgenommen, was die Mitbewohner im Dorf nicht akzeptieren und durch tägliche Demonstrationen vor dem Haus zum Ausdruck bringen. Den Autorinnen ist es gelungen, bei diesem typischen Konfrontationsfall beide Seiten unvoreingenommen zu zeigen. In einigen Film-Momenten spürt man, dass sie der Situation nicht ganz gewachsen sind.

Wild Grass
Wo Eltern nur ein Kind haben dürfen, werden Kinder mit Fehlern schnell mal irgendwo abgelegt und zu Waisen. Der Film beobachtet fünf Waisenkinder in einem Heim in der chinesischen Provinz über den Zeitraum von 12 Jahren: Eindrucksvoll.

Just One Question

Langzeit-Videotagebuch über eine Erkarnkung und die Heilungsversuche. Die Schauspielerin und Filmautorin Marie Bardischewski ist durch eine Entzündung schwerhörig geworden und hat den Gleichgewichtssinn verloren. Sie stellt sich als Testperson amerikanischen Hirnforschern zur Verfügung und dokumentiert ihre Bewusstseinsveränderung, die sie nach Versuchen mit den sogenannten Brain-Divice erfahren hat.

Mama Afrika
Postmortales Filmportait über Miriam Makeba: Archivmaterial, Auftritte und Befragungen der hinterbliebenen Familienmitglieder und Mitmusiker, wie man das so kennt.

My Mother Oak
In der kargen Landschaft des Zagros-Gebirges im Iran wachsen vereinzelt Eichen. Weit ab wohnt ein Einzelgänger in den Bergen. Er bekommt Besuch von Dorfbewohnern, die verbotenerweise das Holz zu Holzkohle verarbeiten. Nicht nur der Raubbau, auch überflüssige Staudammprojekte verändern die Landschaft.

Traumfabrik Kabul  
Eine Polizistin aus Kabul produziert mit sich selbst in der Hauptrolle diverse Spielfilme zum Thema Gewalt gegen Frauen, um das Rollenbild in der afghanischen Gesellschaft zu ändern. Und dann zieht sie mir ihrem Helfer los, um die Filme in der Provinz zu zeigen. Eine sinnvolle Arbeit und vor allem wird deutlich, dass auch dies nur ein Tropfen auf den heißen Stein ist: Gut beobachtet.

Was tun Pina Bausch und ihre Tänzer in Wuppertal…

Wildenhahn beobachtet 1983 das Entstehen einer Produktion von Pina Bauschs Tanztheater, ein Klassiker der Dokfilm-Geschichte, interessant, weil man Tänzer wiedersieht, die auch im neuen 3D-Film von Wim Wenders vorkommen.

Boxing Gym
Frederick Wiseman hat diesmal in der ihm eigenen Art ein Box-Studio im texanischen Austin beobachtet. Sehr guter O-Ton  — und Gott sei Dank mal ein Film ohne Musik.