Branche, Report, Sport, Top-Story: 16.06.2010

Die Technik der Fußball-WM: Think big!

Die Fußball-WM ist neben den Olympischen Winterspielen das größte TV-Sport-Event in diesem Jahr. Entsprechend steht die TV-Produktion der WM für höchste technische Anforderungen im Broadcast-Bereich. Die Produktion des Weltbildes liegt in der Verantwortung von HBS. Das Schweizer Unternehmen führt als Host-Broadcaster die TV-Produktion der Fußball-WM im Auftrag des Fußballverbands Fifa durch. Einer der wichtigen Partner von HBS ist der belgische Hersteller EVS, der gemeinsam mit HBS einige der technischen Grundlagen dieser Produktion gelegt und zahlreiche technische Innovationen umgesetzt hat. In diesem Artikel steht der Einsatz von EVS-Equipment im Vordergrund, er gibt aber auch einen Überblick des Gesamt-Produktionssystems der Fußball-WM 2010.

Schon jetzt deutet sich an, dass die Fußball-WM in diesem Jahr den Sendern neue Zuschauerrekorde bescheren wird: Das erste Spiel der deutschen Mannschaft sahen im ZDF am Sonntag, den 13.6.2010, im Durchschnitt 27,91 Millionen Zuschauer, was einem Marktanteil von 74,4 Prozent entspricht. Kein Wunder also, dass der technische Aufwand immer größer wird, der bei der TV-Übertragung solcher Sport-Events getrieben wird.

Host-Broadcasting im Lauf der Zeit

Früher einmal galten sportliche Großereignisse als hoher Kostenfaktor und schwere Last für den jeweiligen nationalen Sender des Gastlandes. Mit der Kommerzialisierung des Sports wuchsen die Ansprüche und deshalb ist heute üblicherweise die TV-Berichterstattung vom Gastland gelöst und ausgelagert: Bei Sport-Großereignissen ist es heute üblich, dass ein Host-Broadcaster im Auftrag des Veranstalters für alle TV-Stationen, die Übertragungsrechte gekauft haben, deren »Grundversorgung« mit Bildern und Tönen übernimmt. Zur »Grundversorgung« gehören heute zahlreiche Feeds der eigentlichen Wettkämpfe, inklusive Slomo und Berichterstattung aus dem Umfeld.

Das Host-Broadcasting hat sich insgesamt in den vergangenen zehn Jahren erheblich verändert. So wurde auch die Übertragung der Fußball-WM immer ausgefeilter und aufwändiger. Die Fifa beauftragte mit der Umsetzung in den vergangenen Jahren als Host-Broadcaster das in der Schweiz ansässige Unternehmen HBS, das sich auf diese Dienstleistung spezialisiert hat. HBS arbeitet dabei in der Regel mit langjährigen Partnern zusammen. Einer davon ist der belgische Hersteller EVS, der seit etlichen Jahren zu den festen Größen der Sportproduktion gehört.

Gemeinsam haben HBS und EVS viele technische Meilensteine erreicht und Hürden genommen: Von der Digitalisierung bis zur durchgängigen Produktion in HD bei der Fußball-WM 2006 in Deutschland. Bei der vergangenen WM führten HBS und EVS auch erweiterte server-basierte Dienste ein, mit denen die bandlose Bereitstellung und Weitergabe von Medien vorangetrieben wurde. Weitere Meilensteine waren die Produktion eines speziellen Signals für mobile Empfangsgeräte wie etwa Handys. Die wichtigste technische Neuheit in diesem Jahr dürfte die Stereo-3D-Produktion von 25 WM-Spielen sein (siehe Bericht).

Produktion an den Venues

Normale, nationale Liga-Spiele werden in der Regel mit durchschnittlich 12 bis 18 Kameras übertragen — sieht man einmal von wenigen, aufwändiger produzierten Topspielen ab. Bei der Aufzeichnung eines Spiels der Fußball-WM 2010 sind hingegen 29 bis 32 Kameras im Einsatz, abhängig vom jeweiligen Spiel. Neben den Standardkameras setzt HBS auch eine Reihe von Slomo-Kameras mit unterschiedlichen Bildraten ein. Um die Produktion von Live-Wiederholungen, Zeitlupen, Highlights und Closers während eines Live-Fußballspiels sicherzustellen, werden alle Kamerasignale in den OB Vans der Venues mit EVS-Equipment aufgezeichnet.

Multi-Camera Recording

Etwa 130 XT2-Server werden in den unterschiedlichen Ü-Wagen der diesjährigen Fußball-WM eingesetzt. Die EVS-Server zeichnen die Kamerasignale der einzelnen Spiele auf. Sie arbeiten dabei mit Loop-Recording, sodass keine einzige Aufnahme verloren geht. Die live-orientierte Architektur der Server ermöglicht Wiederholungen, den Schnitt von Highlights, die Zusammenstellung der besten Clips und Grafik-Overlays, die vom Ü-Wagen-Produktionsteam während der Spiele produziert werden. Jeder Server kann mehrfache Feeds gleichzeitig einspielen und steuern (bis zu sechs Feeds pro Server).

Während der Produktion eines Spiels sind alle im Ü-Wagen installierten XT-Server miteinander verbunden. Das erlaubt es den Operatoren und dem Produktionsteam, Inhalte und Medien auszutauschen. Die XT2-Server sind per Dual-Media-Sharing-Netzwerk zusammengeschaltet. Jeder Feed, der mit einem der Server aufgezeichnet wurde, kann somit an jedem Server-Arbeitsplatz durchgesehen, geschnitten und wieder ausgespielt werden. Das ermöglicht es den Operatoren vor Ort in den jeweiligen Venues, Clips und Highlights mit anderen Bedienern auszutauschen und so die besten Ausschnitte und Szenen zusammenzustellen, die dann an das IBC in Johannesburg übertragen werden — von wo aus sie dann an die Sender weitergegeben werden.

Live-Schnitt

Insgesamt werden 150 Multicam-LSM-Systeme an verschiedenen Veranstaltungsorten für den Live-Betrieb und die Produktion von Zeitlupen mit verschiedenen Bildraten eingesetzt. EVS-Equipment wird auch für alle Szenen von »Ultra-Motion«-Kamerasequenzen eingesetzt, die mit bis zu 1.000 fps arbeiten. Darüber hinaus nutzen die LSM-Operatoren das System zum Erstellen von Highlight-Zusammenschnitten und Rückblicken (Closer).

Clip-Zusammenstellung und Near-Live Timeline-Bearbeitung

Die besten Szenen und Replays der jeweiligen Venues kombiniert HBS zu einem besonderen Feed, der sogenannten Clip Compilation. Sie enthält die besten Szenen, die auf den XT2-Servern während des Spiels aufgezeichnet werden, etwa Tore aus verschiedenen Perspektiven, Zuschauerreaktionen, Zeitlupen-Szenen. Die Clip Compilation wird von den Venues ans IBC übertragen und auf den dortigen Medienserver eingespielt, wo sie allen HBS-Produktionsteams und den TV-Anstalten mit Senderechten zur Verfügung stehen.

Um die Zusammenstellung der besten Szenen, Wiederholungen und Clips zu vereinfachen, arbeiten die HBS-Teams in den Ü-Wagen mit der Software IP-Director und haben Echtzeit-Zugriff auf alle Logs, die von HBS-Teams mittels IPLogger im IBC in Johannesburg angelegt wurden. IPEdit, der neue Timeline-Editor des IPDirector, wird vom Ü-Wagen-Team zur Produktion von Highlights und Szenen aus dem Vorfeld des Spiels genutzt. Aufgrund seiner direkten Integration in den XT2-Server und aufgrund der Steuermöglichkeiten können Cutter auf die Feeds verschiedener Kameras sofort zugreifen und Szenen und Clips durch einfaches Drag&Drop sofort ihrer eigenen Timeline hinzufügen. IPEdit wird für den Schnitt kürzerer Beiträge eingesetzt. Weil IPEdit außerdem den Zugang zu mehreren Kanälen im gesamten Mediennetzwerk erlaubt (bis zu zwei Timelines können mit XT2-Servern gleichzeitig erzeugt werden), gewinnt HBS Geschwindigkeit und Effizienz.

Live-Erstellung der virtuellen Abseitslinie

Als Neuheit führt HBS das Erstellen einer virtuellen Abseitslinie für den internationalen Feed ein. Das grafische Overlay der Abseitslinie wird mit dem EVS-Epsio-System gesteuert. Diese neue Lösung ermöglicht es dem LSM-Operator, direkt beim Replay einer Szene, ein virtuelles Grafik-Overlay mit automatischer Erkennung der Spielfeldbegrenzungen zu erzeugen. Der Bediener muss nur manuell die Abseitslinie mit seinem Jog-Wheel der LSM-Fernsteuerung anwählen, um sie richtig einzustellen. Dank eines Kalibrationsassistenten, an den jede Kamera Bilder des Spielfelds mit vordefinierten Perspektiven schickt, ist Epsio in der Lage, sofort und automatisch während des Spiels die Spielfeldgrenzen zu erkennen und die Abseitslinie virtuell entlang dieser Grenzen zu erzeugen. Dieser Assistent muss nur einmal pro Veranstaltung durchlaufen werden. Dieser Ein-Sekunden-Vorgang ist mit nur einer Taste auswählbar. Eine spezielle Vorschau des grafischen Overlays garantiert die Verfügbarkeit des Abseitslinien-Effekts, wenn die Regie entscheidet, eine Szene zu wiederholen.

Remote Browsing und Transfer vom/zum IBC

Um die Verfügbarkeit von Mehrkamera-Perspektiven für die Produktionsteams im IBC zu verbessern, wurden weitere Browsing-Arbeitsplätze mit IPDirector (IPBrowser) eingerichtet, die das Browsing und Überprüfen nicht gezeigter Kameraperspektiven direkt nach jedem Spiel ermöglichen. IPBrowser im IBC wird per Ethernet mit der IPDirector-Datenbank verbunden, die sich im Übertragungswagen am Veranstaltungsort befindet. Die Operator im IBC können jeden Clip sowie die dazugehörigen und nicht gezeigten Kameraperspektiven prüfen. Der Operator ist außerdem in der Lage, den hochauflösenden Clip zurück zum IBC zu übertragen.

Der Medienserver: Fifa Max (Media Asset EXchange)

Um die Möglichkeiten der Sender während großer Sportereignisse zu erweitern, hat HBS 2006 den EVS-Media-Server eingeführt. Er gibt dem HBS-Produktionsteam und den Sendern rund um die Uhr Zugang zu allen aufgezeichneten Medien, einschließlich Regieschnitt, verschiedener Kameraperspektiven, der ISO-Kamera und Zusammenstellungen der besten Clips. Außerdem ist das ENG-Material sofort für die Produktion und Post-Produktion verfügbar.

Hinter dem Media-Server verbirgt sich ein als kombinierte Einheit arbeitendes Cluster von EVS-Produktionsservern. Auf der Basis der Instant Tapeless Technologie von EVS kombiniert dieser Medienserver optimierte Hardware (XT2-Server) und Software-Lösungen, um den Austausch und die Weitergabe von Inhalten bei maximaler Geschwindigkeit und Sicherheit zu garantieren. Das schließt die Indexierung (auf der Basis intelligenter Logging-Systeme) der eingehenden Feeds und Inhalte, Medien-Backup und Archivierung ein.

Für die Fußball-WM 2010 in Südafrika verwaltet Fifa Max das Einspielen und den Austausch von nicht weniger als 3.000 Stunden von HD-Inhalten. Während der Spiele sind HBS-Produktionsteams und Medienrechteinhaber (MRLs) in der Lage, auf umfassendes Audio/Video-Material zuzugreifen.

Logging-Betrieb

Die auf den EVS-Medienservern aufgezeichneten Inhalte werden von den HBS-Teams mit dem IPDirector-System von EVS protokolliert. Insgesamt acht Logging-Arbeitsplätze wurden eingerichtet, um den Audio/Video-Feeds, die auf dem Fifa-Max-Medienserver aufgenommen wurden, beschreibende Tags (Metadaten) hinzuzufügen. Zwei Logger sind ausschließlich für die CSF-Protokollierung und das Zusammenstellen der Clips pro Spiel zuständig (im Fall von zwei simultanen Spielen sind es insgesamt vier). Drei Arbeitsplätze sind für die Protokollierung des ENG-Materials und den Vertrieb der MRL-Inhalte zuständig, die in das System importiert wurden. Ein weiterer Arbeitsplatz dient der Überwachung.

ENG-Teams, Web-Browsing

HBS beschäftigt insgesamt 40 ENG-Teams in Südafrika, von denen 32 jeweils einer der teilnehmenden Fußball-Mannschaften zugeordnet sind. Die acht weiteren Teams produzierten WM-bezogene Features, etwa Inhalte rund um Spiele und Fans, südafrikanische Kultur, Sehenswürdigkeiten und Veranstaltungen vor Ort.

Alle Teams sind mit P2-Camcordern von Panasonic ausgerüstet, sie schicken täglich ihre Rohschnitte und ihr Rohmaterial ans IBC. Dort wird das Material sofort protokolliert und ebenfalls auf dem Medienserver für Browsing und Download zur Verfügung gestellt. Die Rohschnitte werden mit dem Xedio Media-Dispatcher-System von EVS verwaltet. Insgesamt werden so etwa 20 bis 25 Stunden an zusätzlichen Inhalten täglich produziert und freigegeben.

Um die Verfügbarkeit von ENG-Schnitten für die Rechteinhaber zu steigern, hat HBS eine neue web-basierte Lösung entwickelt, die Browsing- und Download-Möglichkeiten für Sender eröffnet. Die sogenannten »TV MRLs« und »Radio MRLs« sind ganz neue Kunden, die diese neuartigen Dienste nutzen, die mit der XT2Web-Plattform von EVS entwickelt wurden. Diese Plattform kombiniert Broadcast-Technologie mit einem Webserver-System und wird derzeit von Clubs, Schiedsrichtern und Disziplinarkommissionen der Ligue1 in Frankreich verwendet.

Das XT2-Web-System ermöglicht das dezentrale Durchsuchen von Video und Audio sowie das Herunterladen von ENG-Schnitten – sofern die jeweiligen Sender die entsprechenden TV- oder Radio-MRL-Services erworben haben. Sind das ENG-Material und die dazugehörigen Metadaten (Logs) einmal auf den Medienserver aufgespielt, werden sie automatisch auf einen gesicherten Webserver im Proxy-Format (MPEG, H.264) übertragen. Die Rechteinhaber haben dann die Möglichkeit, auch vom Ausland aus in diesem Low-Res-Material zu suchen und zu recherchieren. Haben sie geeignetes Material gefunden und ausgewählt (Audio/Video oder nur Audio) und in ihren Warenkorb gelegt, können die Rechteinhaber dann die hochauflösende Datei in SD oder HD kaufen. Die Übertragung wird automatisch mit dem SmartJog-System verwaltet, das mit der EVS-Datenbank und dem Medienserver verknüpft ist. Hochauflösende Audiodaten können einfach lokal über die XT2-Web-Lösung importiert werden.

Mobil-Live-Feed Einspielung und Streaming

HBS steuert die Produktion eines Mobile-Feeds, der für die Fifa-Mobil-Abonnenten über Telco-Netze bereitgestellt wird. Um qualitativ hochwertige Berichterstattung anbieten zu können, arbeitet ein eigenes Produktionsteam an der Produktion der Mobile-Feeds. Diese spezielle mobile Produktion ersetzt den Hauptkamera-Feed durch das Signal einer dedizierten Kamera, die ebenfalls von der Hauptplattform aufnimmt, um nahe am Geschehen aufgenommene Bilder und Szenen bereitzustellen, die für bessere Sichtbarkeit auf Mobilgeräten sorgen. Der spezielle, am Austragungsort produzierte Mobile-Feed wird in den Medienserver per Live-Streaming auf Apple XSAN-Server eingespielt. Das ermöglicht dem Final-Cut-Pro-Cutter die Arbeit an der Produktion von Mobilinhalten (Voice-Over, Schnitt und spezielle Teampräsentationen) beim Schnitt schon während der Live-Produktion.

Live Stereo-3D-Produktion

EVS-Server spielen bei der Stereo-3D-Produktionen der ausgewählten 25 Fußballspiele eine zentrale Rolle: Allein sechs XT2-Server sind pro Spiele für Stereo-3D zuständig, und im IBC ist ein spezieller XT2-Server vorgesehen, der von IPDirector und gesteuert wird und für Ingest und Archivierung des Stereo-3D-Contents zuständig ist.

Weitere Infos

Im Lauf der kommenden Wochen finden Sie bei film-tv-video.de weitere Berichte zur Broadcast-Seite der Fußball-WM in Südfrika, darunter auch Video-Interviews mit Verantwortlichen vor Ort.

Videos zum Thema finden Sie in der Videogalerie zur Fußball-WM oder auf dem Youtube-Kanal von film-tv-video.de:
Rundgang durchs International Broadcasting Center.
Produktionstechnik und Workflows des Host-Broadcasters HBS an den einzelnen Venues.
Distribution und Workflows des Host-Broadcasters HBS im IBC der Fußball-WM.