Editorial, Kommentar, Top-Story: 03.12.2007

Auf allen Kanälen

Spielfilme gehören ins Kino und Nachrichten ins Fernsehen. Es ist schon lange her, als diese Regel mal galt. Mit den ersten Spielfilmen im Fernsehprogramm begann die Vermischung. Und heute: Bei großen Sport-Events zieht es die Menschen zum Public Viewing, Kinos denken laut darüber nach, nicht nur Spielfilme, sondern Live-Übertragungen besonderer Ereignisse und Veranstaltungen zu zeigen, an jedem Flughafen und Bahnhof laufen Nachrichten auf Flachbildschirmen, in vielen Bars und Restaurants wird Sport gezeigt. Spielfilme sehen viele nur noch auf DVD oder am PC. Web-TV und Handy haben eine ganz neue Art von Videoschnipsel-Konsum erschaffen.

Mehr als 95 % der deutschen Haushalte verfügen laut Statistik über ein TV-Gerät, fast die Hälfte über zwei oder mehr. Da ist klar, wo auf absehbare Zeit der Schwerpunkt für die Verbreitung von Bewegtbild liegen wird. Dennoch deutet vieles darauf hin, dass das klassische TV-Modell langsam aber sicher in Bedrängnis geraten wird. Hauptgrund: Die anderen Verbreitungswege und Nutzungsarten nehmen zu, der bisher übliche Fernsehkonsum verändert sich. Eine Vielzahl der Konsumenten nutzt mehrere Kanäle, um sich zu informieren und zu unterhalten: Das Seh- und Nutzungsverhalten im Umgang mit Medien hat sich in den vergangen Jahren drastisch verändert.

Für klassische Broadcaster hat das unterschiedliche, teilweise dramatische Konsequenzen. Wenn es in Zukunft andere, angenehmere und flexiblere Möglichkeiten gibt, Spielfilme und Serien zu sehen, dann wird ein TV-Programm, das sich genau hierauf konzentriert, Anziehungskraft einbüßen. Die Orientierung in Richtung neuer Verteilsysteme ist eine logische Folge und für jeden »klassischen« Free-TV-Broadcaster unvermeidlich. Wer aber andere Inhalte anbietet, der wird ebenfalls nicht umhin können, sein Programm auf möglichst vielen Kanälen an den Zuschauer zu bringen und für unterschiedlichste Empfangsgeräte aufzubereiten. Wer nicht mitzieht, verliert mittelfristig den Kampf um die Quote und die Gunst des Publikums: Das ist der Grund für das Ringen der privaten und öffentlich-rechtlichen Sender in Deutschland, wenn es um die Internet-Angebote der Sender geht.

Weiterer Aspekt des Wandels: Die Werbebudgets, von denen viele TV-Sender in Deutschland leben, werden immer weiter aufgesplittet. So fließt ein derzeit noch vergleichsweise kleiner, aber wachsender Anteil in »virale« Werbeformen: Videos, die fürs Web produziert werden und zuerst gar nicht als Werbung erkennbar sind, aber wegen ihres lustigen oder ungewöhnlichen Inhalts vom überwiegend jugendlichen Zielpublikum selbst via Internet und Handy weiterverbreitet werden.

Aus Broadcaster-Sicht ist aber nicht nur der Verteilweg — die Distribution — vom Wandel im TV-Geschäft betroffen, sondern es ergeben sich auch Effekte für das andere Ende der Produktionskette: Mehr, schneller und billiger produzieren, den akquirierten Content besser verwalten und schneller weiterverarbeiten, das wird für viele Broadcaster spielentscheidend sein. Nur wer seine Berge von Inhalten im Griff hat, wer schnell das nötige Material findet, wer es in unterschiedlichsten Formaten auswerten kann, kann weiterhin in einer Medienwelt bestehen, die immer vielfältiger wird und deshalb immer mehr Effizienz abverlangt. Re-Purposing heißt eines der Zauberwörter hierfür, das aber auch in anderen Bereichen passt: Archive dürfen künftig nicht nur Geld kosten, sondern müssen welches einspielen. Seinen einmal akquirierten Content rasch auf unterschiedlichsten Kanälen auszuwerten und dann lange verfügbar zu halten, so lautete das Rezept, um an der »Long-Tail-Economy« teilzuhaben.

Was bedeutet das in der Praxis? Traditionelle Herstellungs- und Arbeitsprozesse müssen aufgelöst und verändert werden — und das geht nun mal gerade bei großen Sendern nicht immer ganz einfach. Vielfach müssen ganz unterschiedliche Bereiche und Berufsbilder zusammengelegt und festgefahrene Arbeitsweisen angepasst werden, was nur in den seltensten Fällen ohne massive Reibungsverluste geht.

Diese Situation ist Fluch und Segen zugleich: Wer sich als Broadcaster schnell umstellt, verschlankt, diversifiziert und seine Produktionsprozesse anpasst, kann neue Zuschauer erreichen und zusätzliche Märkte ansprechen — wer den alten Mustern verhaftet bleibt, muss damit rechnen, auf lange Sicht seine Marktposition einzubüßen und Zuschauer zu verlieren.

Für die Hersteller sind diese Veränderungen nicht minder umwälzend: Ihre Produkte müssen flexibel und modular aufgebaut sein, offene Standardschnittstellen und möglichst viele Exportmöglichkeiten bieten. Mit diesen Anforderungen kommen nicht alle Hersteller zurecht, bisweilen scheint es sogar so, als hätten vermeintlich fortschrittliche Software-Unternehmen damit noch mehr Schwierigkeiten als traditionelle Broadcast-Anbieter.

Bei allen Unwägbarkeiten des Marktes dürfte allerdings eines sicher sein: die Zuschauer werden sich schneller an neue Situationen anpassen, als manche Broadcaster oder Hersteller — und wer mit diesem Tempo nicht mithalten kann, wird es schwer haben.

Sie werden sehen.