Gedehnte Märkte
Ein Blick zurück offenbart es: Das Zeitfenster, in dem sich die Branche bewegt, wird immer größer. Noch vor 10 Jahren lag fast die gesamte Branche technisch relativ eng beisammen. Ausnahmen gab und gibt es immer, aber das Gros der Anwender verwendete doch Equipment, das innerhalb eines überschaubaren Zeitraumes von wenigen Jahren auf den Markt gekommen war.
Seither haben sich die Marktteilnehmer aber mit sehr unterschiedlichen Geschwindigkeiten bewegt. Die einen setzen durchgehend von der Akquisition bis zur Distribution bandlose Technologien ein, während die anderen noch mit einem analogen Betacam-Camcorder durch die Gegend ziehen. Heute reden die einen über Triple Play und Handy-Fernsehen, während die anderen gerade mal eine neue 16:9-Initiative im Regelprogramm anschieben. Die einen wollen unbedingt schnell und ohne Umwege Material ins Programm einbinden können, das mit Fotohandys aufgenommen wurde, den anderen reicht gerade mal 4K als Auflösung für digitale Filme.
Nicht nur die Extreme liegen weiter voneinander entfernt als früher, sondern auch der Mainstream der Branche ist weiter auseinander gezogen. Da ist es schwierig für die Hersteller, die richtigen Akzente zu setzen — die meisten treiben immer nur massiv nach vorne, beschäftigen sich mehr mit der Zukunft als mit der Gegenwart. Und für die Anwender wird es immer schwerer, den Überblick zu bewahren, nicht aufs falsche Pferd zu setzen und den Anschluss zu halten.
Mehr Realitätssinn in der Branche, den Markt so zu sehen wie er ist und nicht wie man ihn sich wünscht, das wird wohl ein Traum bleiben. Zu viele andere Interessen gibt es im Markt, die das verhindern. Wer aber große Teile der Branche abhängt und sich nur auf die kleine technologische Speerspitze konzentriert, der muss ein darauf abgestimmtes Geschäftsmodell haben — und das trifft auf die meisten Hersteller gar nicht zu. Man muss daher kein Hellseher sein, um zu ahnen, dass ohne eine Umorientierung in der Branche weitere brachiale Änderungen drohen.
Eine Änderung in der Wirtschaft, die nicht brachial, sondern ganz langsam und schleichend eingetreten ist, nennt sich Long Tail Economy, seit der Autor Chris Anderson diesen Begriff prägte. Was Anderson beschreibt, wurde seither schon häufig stark verkürzt und verfremdet. Im Kern geht es darum, dass es neue Produktionsmethoden und Vertriebswege (Stichwort E-Commerce) erlauben, mit einem breiter gefächerten Angebot über einen längeren Zeitraum Gewinne zu erzielen. Der langsam auslaufende Schweif einer Verkaufs- oder Umsatzkurve (der Long Tail) gewinnt also an Bedeutung. Als anschauliches Beispiel wird gern der Buchbereich genannt, wo man mit neuen Druckverfahren auch kleine Auflagen von Special-Interest-Büchern herstellen und via Internet vertreiben kann — über einen langen Zeitraum, ohne sich um Stellplatz in den Regalen der Buchhandlungen balgen zu müssen und mit direktem Zugang zur Zielgruppe. Damit lassen sich Gewinne erzielen, auch wenn diese Bücher bei einer Gesamtbetrachtung des Buchmarktes so gut wie keine Rolle spielen und neben den auflagenstarken Topsellern gnadenlos untergehen und im Grundrauschen versinken. Es geht also um Nischenmärkte.
Dass einiges dran ist an diesem Thema, das zeigt sich auf verschiedene Weise auch bei www.film-tv-video.de. Ein Beispiel: Eine Statistikfunktion erfasst unter anderem, wie oft welcher Artikel als PDF heruntergeladen wurde. Welche das in den jeweils zurückliegenden vier Wochen waren, sehen Sie online auf der linken Seite unterhalb der Navigation. Aktuell taucht hier wieder ein älterer Camcorder-Test des DVX100 auf. Weshalb? Wahrscheinlich weil Sönke Wortmann mit diesem Gerät seine WM-Doku gedreht hat und es in der Meldung darüber bei www.film-tv-video.de einen Link zum Test gab.
Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass über Zeiträume von mehreren Jahren betrachtet (ja, www.film-tv-video.de gibt es nun schon sechs Jahre), teilweise Artikel in die vorderen Ränge gelangen, die es kurzfristig immer nur ins Mittelfeld geschafft hatten. Long Tail eben.
Sie werden sehen.