Dokfest München 2016: Vorschau und Empfehlungen
Am Donnerstag den 5. Mai 2016 beginnt das 31. Internationale Dokumentarfilmfestival München mit einem Programm aus 151 Filmen aus 46 Ländern. Der Doku-Kameramann Hans Albrecht Lusznat hat einen Teil der Filme schon gesehen und gibt hier seine ganz persönlichen Tipps und Bewertungen mit einer Abstufung von null bis zu fünf Sternen ab.
Voices from Chernobyl
Die Schönheit der Bilder steht im krassen Gegensatz zu den Vorstellungen, die man mit Tschernobyl und der Reaktorkatastrophe im April 1986 verbindet. Im Licht der untergehenden Sonne sieht man die Baustelle am Reaktor, Kühltürme und den Rest der verlassenen Anlage, umgeben von einer farbenprächtigen Natur, die sich den Raum zurückgeholt hat. Eigentlich ist dieser Film ein bebildertes Hörspiel und 90 Minuten lang erfährt man aus den Interviewtexten der Journalistin Svetlana Alexievich vom Leben der Überlebenden, erzählt aus den unterschiedlichsten Perspektiven, für den Film mit französischer Sprache, was eine zusätzlich lyrische Komponente hinzufügt. Der Filmemacher hat mit Schauspielern den Stimmen ein Gesicht gegeben und es braucht nicht viel Handlung, um eine eindrucksvolle Wirkung zu erzielen: Die Ausstrahlung der Orte ist stark.
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Homo Sapiens
Diesen Film hätte man auch Lost Places nennen können, denn er handelt von verlassenen Orten, die sich die Natur wieder zurückholt. Es sind Plätze, an denen die Zivilisation gescheitert ist. Am eindrucksvollsten sind natürlich jene Orte, die von ihren ehemaligen Bewohnern Hals über Kopf verlassen werden mussten. Die Atomkatastrophen von Fukushima und Tschernobyl etwa haben zwei riesige Areale entstehen lassen, die Menschen Hals über Kopf verlassen mussten.
Das Rezept des Films ist denkbar einfach. Eine statische Kamera, keine Schwenks oder sonstigen Bewegungen. Lebende Fotos von der ungefähren und variierenden Länge einer halben Minute reihen sich aneinander: Büros, Schulen, Krankenhäuser, Kirchen, Diskos, Bahnhöfe, Gefängnis, Schlachthaus, Bunker, Kriegsschiffe. Besonders aufwändig ist der Ton bearbeitet.
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Sonita
In ihr persönliches Facebook klebt Sonita mit der Schere ausgeschnittene Bilder ein und realisiert so zumindest auf Papier ihren Traum, Rapperin zu werden und vor großem Publikum zu stehen. Sie lebt mit der Schwester als Afghanistan-Flüchtling illegal in Teheran und wird von einer NGO zum Schutze von Straßenkindern betreut und schulisch versorgt. Ihre Traumeltern sind Michael Jackson und Rihanna, sagt sie dort im Unterricht. Mit Putzen verdient sich Sonita etwas Geld und will im Studio eine Platte aufnehmen, was sich als schwierig gestaltet, weil Frauen im Iran nicht singen dürfen. In einer eindrucksvollen Szene des Films stellt Sonita mit den Schülern der Klasse die Situation an einem Checkpoint der Taliban nach. Wortlos und nur mit Gesten arrangiert sie die einzelnen Personen zu einer Horror-Skulptur ihrer Erlebnisse.
Dann will ihr Bruder in Afghanistan heiraten und braucht Geld für die Baut, weshalb Sonita für 9.000 Dollar an einen Mann verkauft und mit ihm verheiratet werden soll. Sie hockt in der Ecke eines Zimmers und macht einen Vorschlag, vor dem sich jeder Filmemacher fürchtet: »Kauf mich«. Damit ist die Autorin gemeint, und auch wenn der Dokumentarist in ihr die Einmischung ablehnt, stünde das Nichteinmischen für das vorzeitige Ende des Films.
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Gottland
Fünf Autoren haben für diesen Film ihre Geschichten zum Thema Tschechien beigesteuert. Die Erfolgsgeschichte der Bata Schuhfabriken in Zlin, die Affäre, die Schauspielerin Lida Baarova mit Joseph Goebbels hatte und die nach dem Krieg ihr Leben überschattete, das Lavieren des Autors Eduard Kirchbergers zwischen Gestapo und Tschechischer Staatssicherheit, das Prager Stalindenkmal, 1955 errichtet und 1962 schon wieder gesprengt sowie die Geschichte des Schülers Zdenek Adamecs, der sich 2003 in Prag anzündete und Selbstmord beging. Alle Autoren haben sehr eigene Wege gewählt, um ihre Episode zu erzählen. Es gibt einen endlosen Schwenk durch die Schuhfabrik, mit Schauspielern nachgespielte Begegnungen, und Comic-Adaptionen unterschiedlichster Form.
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Vom Lieben und Sterben
Robert sitzt im Rollstuhl, und gleich in der ersten Szene organisiert er am Telefon seine Beerdigung: eine Feuerbestattung in Amerang, die einfachste Urne und bezahlen möchte er schon jetzt. Ein Auto, das über den Mittelstreifen hinweg auf ihn zuraste, war für Robert das Ende seiner Musikerkariere im Quadro Nuevo Quartett. Er ist seither querschnittsgelähmt und kann bis auf Teile des linken Arms nichts mehr bewegen. Als auch die letzte Hoffnung auf Besserung schwindet, schließt er mit seinem Leben ab, obwohl er in Angelika seine große Liebe gefunden hat. »Mit der Trauer wird man eher fertig, als noch zehn Jahre mit mir zu leben«, räsoniert Robert und sucht Beratung bei Rechtsanwälten und Ärzten. Zum Sterben möchte er in die Schweiz gehen.
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