Editorial, Kommentar, Top-Story: 22.07.2014

Abgebrochene Lektüre

Der Mathematikprofessor Jordan Ellenberg von der Universität Wisconsin hat ermittelt, dass die meisten bei Amazon gekauften Bestseller von den Käufern gar nicht zu Ende gelesen werden. Ellenberg kann sogar Aussagen darüber treffen, wie weit die Leser wohl gekommen sind, bevor sie die Lektüre einstellten — und dafür musste er keinen einzigen Leser befragen, sondern er nutzte einfach nur frei verfügbare Informationen.

Ellenberg hat seine nicht ganz ernst gemeinte Feldforschung in einem Essay zusammengefasst, das im Wall Street Journal veröffentlicht wurde.

Die Basis dafür bildete eine Funktion des von Amazon angebotenen Lesegeräts Kindle: Die Kunden können beim Lesen mit diesem E-Reader Textpassagen markieren und hervorheben. Bei Amazon.com werden die fünf von allen Kindle-Nutzern am häufigsten markierten Passagen jedes Buchs als »Popular Highlights« angezeigt.

Nun kommen Vermutungen und Unschärfen ins Spiel, die das Ganze zwar unwissenschaftlich werden lassen, die aber einen gewissen Charme haben: Wenn die meisten dieser Markierungen vom Anfang des Buches stammen, so Ellenberg, könnte das ein Indiz dafür sein, dass die meisten Kunden das Buch gar nicht ganz gelesen haben. Wenn sich hingegen die »Popular Highlights« einigermaßen gleichmäßig über alle Seiten des Buches verteilen, hat wohl ein Großteil der Kunden das Buch ganz gelesen.

Hieraus bastelte Ellenberg eine simple Formel, deren Ergebnis er scherzhaft als »Hawking-Index« bezeichnet: Das ist als Hommage an den Astrophysiker Stephen Hawking zu verstehen, dessen nicht ganz einfach zu lesendes Sachbuch »Eine kurze Geschichte der Zeit« als viel gekauft, aber wenig gelesen gilt.

Die Ellenberg-Formel: Man nimmt die Seitenzahlen der »Popular Highlights« eines Buches und bildet den Mittelwert. Diese Zahl teilt man durch die Gesamtseitenzahl des jeweiligen Buchs. Je höher das Ergebnis, desto mehr Leser dürften das Buch bis zum Ende gelesen haben.

Am besten schneidet dabei innerhalb einer von Ellenberg getroffenen Auswahl das Buch »Der Distelfink« von Donna Tartts ab, dessen »Popular Highlights« allesamt aus den letzten 20 Seiten des Buches stammen. Einen mittleren Wert erreichte die Sado-Maso-Erzählung »Fifty Shades of Grey«. Am unteren Ende von Ellenbergs Skala — und somit potenziell von den meisten Lesern nicht zu Ende gebracht — stehen »Eine kurze Geschichte der Zeit« von Stephen Hawking und eines der meistdiskutierten Bücher des Frühjahrs 2014, »Das Kapital im 21. Jahrhundert« von Thomas Piketty. Das Buch Pikettys ist ein 700-Seiten-Werk, bei dem die meisten Leser möglicherweise nicht über Seite 26 hinausgekommen sind — denn von dort stammt das »Popular Highlight« mit der höchsten Seitenzahl dieses Buchs.

Ellenbergs Ansatz ist aber nicht nur unterhaltsam, er lenkt auch mal wieder den Blick darauf, was die Datenkraken, deren Dienste die meisten von uns ziemlich regelmäßig und oft sogar täglich nutzen, an Wissen über uns anhäufen — und wie man dieses Wissen mit irgendwelchen windigen Algorithmen aufbereiten kann.

Sie werden sehen.

 

P.S.: Schon im Jahr 2009 hatte Amazon einmal kurz aufblitzen lassen, was mit moderner Technik alles möglich ist — und film-tv-video.de hatte sich in einem Editorial damit befasst: Geliehenes Leben.

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23.07.2009 – Geliehenes Leben