Report, Top-Story: 11.03.2009

»24h Berlin«: 24 Stunden Programm in permanenter Parallelmontage

Die Mammutproduktion »24 Stunden Berlin« befindet sich in der Postproduktion. Nun gilt es, aus rund 800 Stunden Material ein dramaturgisches Konzept für die lange Sendestrecke zu entwickeln. Das Material hatten am 5. und 6. September 2008 rund 80 Teams mit HD-Equipment in der Hauptstadt gesammelt. Daraus wird nun ein 24-Stunden-Programm geschnitten, das exakt ein Jahr nach den Dreharbeiten am Stück ausgestrahlt werden soll.

Als »Experiment mit offenem Ausgang«, bezeichnet Regisseur Volker Heise sein Berlin-Porträt der anderen Art. film tv-video.de hat ausführlich von den Dreharbeiten berichtet (Videoreport). Seither ist ein halbes Jahr vergangen und die Postproduktion läuft auf Hochtouren — Zeit nachzufragen, wie es vorwärts geht.

»Ein bisschen unheimlich war es schon, dass wir keine Bänder hatten«, räumt Regisseur Volker Heise ein. Seit Dezember 2007 ist das Logging abgeschlossen und Heise arbeitet mit Chefcutterin Annette Muff und drei weiteren Teams am Schnitt. Bei früheren Projekten — unter anderem bei »Abenteuer 1900 – Leben im Gutshaus« mit immerhin 500 Stunden Originalmaterial — haben Heise und Muff schon Erfahrung mit großen Mengen Ausgangsmaterial gesammelt, dabei aber immer mit Bändern gearbeitet. Bei »24h Berlin« wurde dagegen bandlos aufgezeichnet: mit 50 Sony-Camcordern des Typs PMW-EX1, 10 PMW-EX3 und 20 PDW-700. Gespeichert wurde statt auf Videokassetten auf SxS-Speicherkarten und Professional Discs. Die 80 Teams lieferten die Medien während des Drehtages laufend ans Hauptquartier der Produktion, wo sie auf einen Server umkopiert und im Fall der Speicherkarten gleich wieder zur Neubespielung an die Teams verteilt wurden. So kam schließlich die Menge von 800 Stunden Originalmaterial zusammen — in der Planungsphase waren die Macher von bis zu 1.000 Stunden Material ausgegangen.

Als erstes Ordnungssystem für den späteren Zugriff und das Sortieren des Materials, hatte die Produktion ein einfaches Konzept ausgetüftelt: Für die Verzeichnisse der Kamera-Datenträger waren die Teamnummern und Bezeichnungen für mehrere Zeitabschnitte vorgegeben. Die Teams waren aufgefordert, jeweils rechtzeitig die Verzeichnisse zu wechseln. Für die weitere Untergliederung sorgte dann die automatische Clip-Nummerierung.

Etwa vier Wochen lang wurden nach Drehschluss 800 Stunden HD-Material gesichtet und geloggt. Dabei traten durchaus auch Probleme auf, die sich aber im wesentlichen auf verkürzte Dateinamen bei den EX1-Files beschränkten. Um dieses Problem zu lösen, musste ein Umweg beschritten werden: Die EX1-Daten wurden im MXF-Format in ein Avid-Nitris-Schnittsystem importiert, dort konnte dann der Timecode genutzt werden um die Chronologie der Aufnahmen von verschiedenen Schauplätzen zu erhalten, erläutert Stefan Engelkamp vom Berliner Postproduktionshaus Concept AV. Einfacher und schneller — nämlich in halber Echtzeit — ließen sich die PDW-700-Aufnahmen einspielen. Allerdings hatten einige Kameraleute es bei diesen Aufnahmen versäumt, rechtzeitig die Verzeichnisse zu wechseln, was ebenfalls Nacharbeiten verursachte. »Ein großes Aufatmen«, gab es nach Abschluss dieser Vorbereitungsarbeiten, berichtet Volker Heise: Datenverluste hatte es nicht gegeben.

Nun konnten Annette Muff und ihr Editing-Team mit der kreativen Arbeit loslegen und von vier Nitris-Plätzen auf das zentral gespeicherte Material zugreifen. Hierbei kommt ein »DDP«-SAN von Ardis Technologies zum Einsatz. Würden aber die gesamten 800 Stunden Originalmaterial auf dem Server vorgehalten, würde das die Arbeitsorganisation erschweren und die Speicherkapazitäten sprengen. So entschied man, die Arbeit in 3-Stunden-Blöcke zu untergliedern. Das entspricht auch der Verabredung mit der Produktion und den beteiligten Sendern: Das Mammutwerk wird den beteiligten Partnern auch abschnittsweise vorgeführt und von diesen abgenommen. Ist ein Block fertiggestellt und abgenommen, werden die Daten des nächsten 3-Stunden-Blocks auf den Server gespielt. Die erste Abnahme fand Ende Januar 2009 statt.

Wahrscheinlich wird kaum ein Zuschauer die gesamten 24 Stunden der Dokumentation am Stück ansehen. Um also eine zeitliche Struktur zu schaffen und den Wiedereinstieg zu ermöglichen, montieren drei Editing-Teams mit jedem der Hauptprotagonisten des Films je drei 20 Minutenblöcke pro Filmabschnitt vor, die dann »On Air« durch Texttafeln eingeleitet werden. Am vierten Schnittplatz werden die von Amateuren eingesandten Filmclips vorbereitet: Dort sammelt sich eine Vielfalt digitaler Formate, die zunächst einheitlich auf HD transkodiert werden. Dass das mit Handy-Videos nicht bildfüllend möglich ist, war klar: »Wir bauen eine Maske, um die andere Quelle deutlich zu machen«, erläutert Volker Heise.

Die Materialfülle führte die Idee, ein durchgehendes Konzept für den Schnitt einzuhalten, sehr schnell ad absurdum. »Es funktioniert nur mit Trial and Error, die richtige Struktur zu finden«, meint Annette Muff. Für »den Zusammenhang, der mehr ergibt als beide Teile«, sucht Volker Heise nicht nur nach den inneren Strukturen einzelner Geschichten, sondern er will auch die »Balance zwischen den Protagonisten und den Erzählungen aus der Stadt« erreichen. Die findet sich aber nicht in einer einheitlichen, konstanten Dramaturgie für die 24 Stunden.

Allein der Zeitablauf drängt unterschiedliche Vorgehensweisen auf. So müssen die Protagonisten natürlich am Anfang des Programms vorgestellt werden. Dabei muss Annette Muff aber Dopplungen eliminieren, denn »zwischen sechs und acht Uhr stehen halt viele Protagonisten auf«. Das bietet aber auch der von Heise gewollten »permanenten Parallelmontage« Raum: »Manche gehen eben um diese Zeit auch erst ins Bett«, beschreibt Heise eine Möglichkeit der assoziativen Montage, wie sie über die gesamte Länge der Produktion immer wieder entdeckt und herausgearbeitet werden muss.

Tradierte dramaturgische Konzepte des Kinodokumentarfilms greifen aus Sicht von Heise und Muff bei »24h Berlin« überhaupt nicht. Mit seiner Vielfalt der Personen und Orte und der konsequenten Orientierung an der Chronologie, bleibt gar nicht genug Spielraum, um Einzelnes länger einzuführen. Wird zu lange an einem Ort verweilt, könnte aus Sicht der Kreativen gar Langeweile drohen. Umgekehrt könnte ein zu schneller Rhythmus Zusammenhänge zerstören und zerschneiden. Im späteren Verlauf des »Echtzeit«-Dokumentarfilms könnte aber auch ganz anders gearbeitet werden. So will Heise den Zuschauern die »Gelegenheit, als ‚Mäuschen’ prominenten Opernstars bei einer Probe zuzuschauen« nicht vorenthalten. Dafür haben Heise und Muff eine Sequenz von bis zu 20 Minuten Länge angedacht. Letztendlich »können wir Wechsel des Tempos und der Erzähltemperatur vorab überhaupt nicht planen«, beschreibt Annette Muff den Widerspruch, den sie beim Schneiden lösen muss.

Zur thematischen Vielfalt und der Vielzahl an Orten und Personen kommen auch noch die unterschiedlichen gestalterischen Handschriften der Aufnahmeteams hinzu. Ein Kameramann aus dem Bereich Kinodokumentarfilm arbeite eben anders als sein Kollege vom Privatfernsehen, erläutert Heise. »Das bringt Unterschiede in Tempo und Rhythmus. Wir kommen gar nicht in die Versuchung, einen Einheitsbrei zu machen«, ergänzt Annette Muff. Aus der durchaus beabsichtigten »Not« macht Heise also eine Tugend: »Wir wollen die Vielfalt dieser Stadt zeigen. Das lässt sich nicht unter einen Hut bringen. Ein durchgängiger Stil über 24 Stunden — das wäre langweilig.«

Der Schnitt des außergewöhnlichen Programms, das aus Sicht von Volker Heise keine Sendung und auch kein Film im engeren Sinn sein soll, wird noch bis Ende Juli 2009 dauern. Ab März beginnt parallel die Audio-Postproduktion in französischer und deutscher Sprache. Danach wird Stefan Engelkamp die Farbkorrektur der einzelnen bis dahin fertigen Blöcke vornehmen.

Sendetermin, weitere Auswertungen

Am 5. September 2009, 20 Jahre nach dem Mauerfall, soll »24h Berlin« ausgestrahlt werden: ab 6:00 Uhr auf Arte (in SD und HD) und im RBB-Programm (SD). Offen ist derzeit noch, ob es gekürzte TV- und Kinoauswertungen des Projekts geben wird — und auch die langfristige Archivierung des Materials wird derzeit noch diskutiert.