Archaische Rituale
»Romania twelve points.« Drei Worte genügen, und die meisten Leser dieses Newsletters wissen: Hier geht es um den Eurovision Song Contest. Auch wenn man diese Veranstaltung vollkommen bescheuert und die Musik grauenhaft findet, kennt man das Ritual der Abstimmung.
Nun gäbe es heutzutage zweifellos viele Möglichkeiten, die Ergebnisse dieses Musikwettbewerbs schneller zu präsentieren, als in die einzelnen Teilnehmerländer zu schalten und dort die Punktevergabe vorlesen zu lassen. Es ist aber genau dieses altmodische, archaische Ritual, das zum Symbol des früheren »Grand Prix« wurde und einen Großteil von dessen Sendezeit einnimmt.
Aus dem gleichen Grund müssen Verhandlungen, etwa zwischen Tarifparteien oder um die Gesundheitsreform, bis in die frühen Morgenstunden dauern. Aber glaubt irgendjemand wirklich, dass nach einem Verhandlungsmarathon mit verhärteten Fronten plötzlich morgens um halb vier einem der Teilnehmer spontan die zündende Idee kommt? Aber es ist nun mal ein Ritual.
Es geht noch eine Stufe weiter, bis in die Projektion eines zukünftigen Rituals. Für das Science-Fiction-Epos »Minority Report« etwa, haben die Autoren ein archaisches Ritual erfunden: In der hoch technisierten Zukunftswelt dieses Spielflms werden die Ergebnisse von Kriminalprognosen in Holzkugeln gefräst — von High-Tech-Robotern. Die Holzkugeln rollen dann — der deutschen Lottoziehung nicht unähnlich — in die Ergebnisschale.
Das Ritual-Thema ist insgesamt komplex: Den Kirchen in Deutschland laufen die Mitglieder davon – gleichzeitig brummt das Geschäft im Esoterik-Bereich. Schamanen, Hellseher, Heiler und Weise aller Couleur erfreuen sich des Zulaufs Hilfesuchender. Man muss nur mal durch die Satellitenkanäle zappen, um zu erkennen, dass das auch im Fernsehprogramm seinen Niederschlag findet.
Andere flüchten sich in virtuelle oder reale Fantasie-Welten, schlüpfen in ihrer Freizeit vor dem Computer in die Rolle von Hexen, Zauberern, Zwergen, Mutanten oder Kampfmaschinen. In der U-Bahn praktisch jeder Großstadt wächst zudem wieder die Zahl derer, die sich durch typische Kleidung als Gothic-Freaks, Schein-Punks oder Emos profilieren.
Was steckt dahinter? Vielleicht ist es tatsächlich eine tief sitzende Sehnsucht nach Ritualen, die in der modernen, effektiven, kommerzialisierten Welt neue Ventile sucht, alternative Ausdrucksformen, Religionen ohne Gott.
Man muss aber gar nicht ins Extreme gehen, um archaische Rituale zu beobachten, auch das Posieren mit Monster-Geländewagen, Alpha-Männchen-Armbanduhren und Multimedia-Handys — den Zeptern und Keulen der modernen Geschäftswelt — ist bei kritischer Betrachtung gar nicht so weit entfernt vom Brustgetrommel der Gorillas.
So zeigt sich: Es lohnt sich, ab und zu von außen auf eigene Verhaltensweisen und ritualisierte Handlungen zu blicken.
Sie werden sehen.
P.S.: Zu einem Nebenaspekt dieses Editorials gibt es eine ganz hervorragende Bildergalerie, die Sie aber bitte erst nach der intensiven Lektüre der nachfolgenden Meldungen betrachten sollten: http://sz-magazin.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/25347