Schon zu spät?
Es hat ein bisschen länger gedauert, aber nun herrscht Klarheit: HD soll für die Mitglieder der EBU in Produktion und Distribution eindeutig 720p50 heißen. Was bisher von vielen eher als unverbindliche Empfehlung und Meinungsäußerung betrachtet wurde, soll jetzt also einen offiziellen und verbindlichen Charakter bekommen. Das wird ganz sicher Auswirkungen haben — besonders bei den öffentlich-rechtlichen Sendern und staatlichen Broadcastern in Europa, die das Gros der EBU-Mitglieder stellen.
Können sich nun also die 720p-Befürworter Panasonic und JVC über ein boomendes Europageschäft freuen, während 1080i-Aktivist Sony in die Defensive gerät? Das ist zwar ein nahe liegender Rückschluss, aber er greift deutlich zu kurz.
Lässt man für einen Moment die technischen Fakten außer Acht und schiebt auch die teilweise emotional geprägte Lagerrhetorik zwischen 1080i und 720p beiseite, dann wird der Blick frei auf die reale HD-Produktionswelt. Hier stehen 720p und 1080i nebeneinander — bisher mit einem Vorteil für 1080i, was die Zahl an verkauftem Equipment und an realisierten Produktionen betrifft. Außerdem gibt es einen klaren Trend zu Geräten und Infrastrukturen, die beides beherrschen: Panasonics HD-Camcorder bieten eben nicht nur 720p, sondern auch 1080i, Grass Valleys »Worldcam«, die im Ü-Wagen-Bereich gern eingesetzt wird, kann zwischen 720p und 1080i umgeschaltet werden. Dasselbe gilt auch für Sonys HD-Kameras, wie etwa die HDC-1500. Praktisch alle mit diesen Kameras und weiterem Equipment bestückten HD-Ü-Wagen können — auf die eine oder andere Weise — beide Signalvarianten ausgeben.
Vorort-Produktionen mit Ü-Wagen, besonders im Sportbereich, sind die treibende Kraft und der am weitesten entwickelte HD-Bereich in Europa. Und hier gibt nicht die EBU die Regeln vor: So erklärte Josef Nehl, der Geschäftsführer von Sportcast gestern beim Sony-Innovationsforum in Berlin auf Nachfrage, dass die Fußballspiele der ersten und zweiten Bundesliga unabhängig von EBU-Empfehlungen und –Regeln auch weiterhin in 1080i produziert werden. Sportcast ist eine 100-%-Tochter der DFL und produziert in deren Auftrag das Live-Signal aller Spiele der beiden höchsten deutschen Fußballligen. Nehls Wort hat also Gewicht und dank seiner früheren Manager-Tätigkeit bei Wige kann der Ex-Fußballprofi auch auf einen reichen Erfahrungsschatz in der Sportübertragung zurückgreifen.
Blickt man in die USA und nach Japan, wird deutlich, dass sehr viel Material, auf das auch die europäischen TV-Anbieter zurückgreifen müssen, wenn sie Vollprogramme in HD senden wollen, in 1080i produziert wurde und/oder vorliegt.
Ist es also in Wahrheit längst zu spät, um einen einheitlichen europaweiten HD-Standard in Europa zu etablieren? Ja, der Zug ist abgefahren: 1080i und 720p sind auch in Europa schon längst parallel in der Welt, es ist sehr unwahrscheinlich und unrealistisch, dass ein Standard den anderen verdrängen kann — zumal ja weitgehende Einigkeit darüber herrscht, dass zumindest in der TV-Produktionswelt das nächste Etappenziel 1080p heißt.
Wir alle werden also einfach damit leben müssen, dass auch HD-Material auf dem Weg von der Kamera bis zum Fernsehgerät oder PC-Bildschirm mehrfach gewandelt, skaliert und transkodiert wird, so wie das auch schon zu Zeiten von PAL und NTSC der Fall war.
Sie werden sehen.