Karnickel aus dem Zylinder, Version 7.6
Marketing hat viel mit Zauberkunststückchen zu tun, oder wie der distinguierte Kenner sagt: mit der Kunst der Illusion. Das Gleiche trifft auch auf Film und Fernsehen zu.
Um so höher dürfen natürlich die Erwartungen sein, wenn Marketing und Medienbranche zusammentreffen. Zwar erlebt man dabei auch so manche Enttäuschung, eben ganz wie beim Besuch von Zaubershows: Wenn lustlos Karnickel aus dem Zylinder gezerrt oder teilnahmslos sogenannte Jungfrauen wahlweise zum Schweben gebracht oder zersägt werden, dann reißt das kaum noch einen vom Hocker. Aber die wahren Magier und Illusionskünstler schaffen es doch immer wieder, sich selbst neu zu erfinden und ihr Publikum mit frischem Hokuspokus und alten Tricks im neuen Gewand zu überraschen.
Natürlich muss das Publikum eine Mindestbereitschaft mitbringen, sich unterhalten zu lassen: Wer dauernd grübelt, wie der Trick funktioniert, wo Stangen und Seile versteckt, wo Spiegel platziert sind, der wird sich nicht amüsieren. Aber solange er Eintritt bezahlt …
Wenn der Zauberer abgeschminkt allein in der Garderobe sitzt, dann kommen auch bei ihm hin und wieder quälende Fragen und Gedanken hoch: Klappt der alte Trick auch beim nächsten Mal wieder? Werden die eingespielten Routinen das Publikum noch einmal begeistern?
Aber dann geht er wieder raus auf die Bühne, seine Musik erklingt und er preist die Software-Version 7.6 an, als habe er gerade das Rad neu erfunden. Er jubelt über völlig neue Dimensionen, die sich eröffnen. Er schwelgt in Feature-Listen. Seine Augen funkeln, wenn er begeisterte Anwenderkommentare zitiert. Und er glaubt zu wissen: Das Publikum will es so. Es ist mein Publikum. Sie sind hier, um mich zu sehen. Sie wollen sich begeistern lassen.
Aber was soll er denn auch sonst tun: Das kann er nun mal am besten und wenn seine Tricks nicht mehr überzeugen, dann heuert der Direktor eben einen anderen Zauberer an oder nimmt eine andere Nummer ins Programm.
Es sei denn, der Zauberer hat den Status von Siegfried & Roy erreicht: Ausgestattet mit einem Vertrag auf Lebenszeit, mit einer kompletten, eigenen Show und weißen Tigern. Dann ist alles anders. Und so sind wir in Las Vegas angekommen, wo die Redaktion während der NAB2003 in vielen Zaubershows saß und manches Mal vergeblich auf den weißen Tiger wartete. Nun sind Sie an der Reihe: Der Trendreport von der NAB2003 ist fertig und steht online zum Download bereit. Wenn Sie in diesem Artikel ihren persönlichen weißen Tiger nicht finden, ist er ja vielleicht in den stärker produkt-orientierten NAB-Berichten und zusätzlichen Hintergrund-Infos versteckt, die in den nächsten Tagen folgen.
Sie werden sehen.
P.S.: Lust auf ein ganz kleines Zauberkunststückchen? Man muss nur einige wenige Worte des oben stehenden Textes austauschen, am Schluß ein paar Sätze weg lassen und schon kann das Ganze als politischer Kommentar durchgehen. Ersetzen Sie einfach »Marketing« durch »Politik« (was heute ohnehin oft dasselbe ist und sehr viel mit den Medien zu tun hat) und »Software-Version« durch »Steuerreform«. Sie werden sehen: Wir sind umgeben von Zauberern und Illusionisten.