»Babylon: Rausch der Ekstase«
Gedreht auf Film, weit überwiegend mit Orion-Anamorphoten: Gespräch mit DoP Linus Sandgren über »Babylon: Rausch der Ekstase«.
Der Kinofilm »Babylon: Rausch der Ekstase« spielt technisch betrachtet um den Paradigmenwechsel zwischen dem aufkommenden Tonfilm und dem auslaufenden Stummfilm in den 1920er-Jahren. Es geht aber auch darum, wie in dieser Zeit Filme produziert wurden und welches Ausmaß von Dekadenz, Verderbtheit und Exzess die Akteure diesen Umbruchs umgab. Somit ist in »Babylon« das Filmbusiness und das Hollywood-System selbst das Thema dieses Films — in vielerlei Aspekten.
Eine solche Art der Selbstbespiegelung und Selbstkritik war schon vielfach das Thema von Filmen — und einige davon beleuchten absolut meisterhaft, einige der Teilaspekte des Hollywood-Systems — man denke nur an »Hail Caesar!«. Mit »Babylon: Rausch der Ekstase« kommt nun also ein sehr opulentes, dreistündiges Werk des Regisseurs und Autors Damien Chazelle hinzu, das aber den Rahmen aller anderen Film-über-Film-Produktionen definitiv sprengt — in ganz vielerlei Hinsicht.
Dass ein Film mit einem solchen, auch filmtechnischen Thema aus den 1920ern auf Film gedreht wurde, ist natürlich eigentlich fast schon zwingend — und so beschlossen Regisseur Damien Chazelle und DoP Linus Sandgren auf das Drehen mit Kodak-Material und anamorphotischen Objektiven. Im folgenden ein Gespräch mit Linus Sandgren.
Mit seinem neuesten Film »Babylon: Rausch der Ekstase« hat Autor/Regisseur Damien Chazelle eine 183-minütige Paramount-Pictures-Produktion vorgelegt, das fast vollständig auf Kodak-35-mm-Film gedreht wurde. DoP Linus Sandgren ging dabei aber bis an die Grenzen der Belichtung und Filmentwicklung, um ein beeindruckend impressionistisches, visuelles Ergebnis zu erzielen.
Die Produktion brachte Chazelle und Sandgren zum dritten Mal zusammen. Zuvor hatten die beiden bereits bei dem Musical-Hit »La La Land« (2016) zusammengearbeitet, der für 14 Oscars nominiert war und sechs davon gewann. Dann realisierten die beiden das Astronauten-Abenteuer »First Man« (2018) (deutscher Titel: »Aufbruch zum Mond«. Beide Produktionen wurden auf Film gedreht.
Sandgren drehte auch schon Filme anderer Regisseure auf Film: »American Hustle« (2013), »007 James Bond – Keine Zeit zu sterben« (2021) und »Don’t Look Up« (2021).
»Das Drehbuch für ‚Babylon‘ war lang, umfasste etwa 180 Seiten, von Rand zu Rand mit Dialogen gefüllt«, erinnert sich Sandgren an seine erste Reaktion auf die Lektüre von Chazelles Drehbuch. »Manchmal standen die Zeilen der Schauspieler nebeneinander auf der Seite und nicht in der richtigen Reihenfolge, was mir automatisch ein Gefühl für das Tempo und die Intensität vermittelte, die Damien für das Tempo der visuellen Erzählung in den verschiedenen Teilen des Films wollte.«
»Als wir gemeinsam über die Ästhetik des Films sprachen, war Damien ganz klar, dass er nicht wollte, dass ‚Babylon‘ wie ein typischer Historienfilm wirkt oder in irgendeiner Weise aufpoliert wirkt. Er wollte das genaue Gegenteil — es sollte ziemlich rebellisch sein, ein chaotischer Zirkus, in dem wir den Dreck, den Schmutz und die beschissene Kehrseite der Dinge erkunden, die die Charaktere erleben. Das Ganze mit einer Kamera, die lebendig und neugierig ist, um diese Welt zu erforschen, fast wie eine eigene Figur, die herumläuft und das Geschehen beobachtet und sich mit den Charakteren verbindet.«
Zu den visuellen Inspirationen, die Chazelle Sandgren vorschlug, gehörten eine Reihe von Epen der alten Schule — wie Federico Fellinis »La Dolce Vita« (1961), Robert Altmans »Nashville« (1975) und Francis Ford Coppolas »Der Pate« (1972) — die alle die Idee einer Gesellschaft im Wandel vermitteln. Sandgren erwähnte auch Paul Thomas Andersons »Boogie Nights« (1997), weil er eine faszinierende, sensible und romantische Darstellung menschlicher Charaktere in verderbten Situationen bietet.
»Mit all dem im Hinterkopf, wollte ich ‚Babylon‘ impressionistisch angehen. Ich wollte, dass er visuell mutig ist, mit mehr Körnung, mehr Farbe in den Kulissen und Kostümen und mehr Kontrast im Bild als bei jeder anderen Produktion, die ich bisher gedreht habe. Damien war damit einverstanden, und wir waren uns auch einig, dass Babylon auf 35-mm-Film gedreht werden sollte. Wir waren beide der Meinung, dass dies die ehrlichste Art wäre, eine solche Geschichte zu erzählen.«
»Babylon: Rausch der Ekstase« wurde an 74 Drehtagen in den Sommer- und frühen Herbstmonaten des Jahres 2021 gedreht, hauptsächlich an Orten rund um Los Angeles. Dazu gehörten die Innen- und Außenaufnahmen der Villa, in der die dekadenten Soireen stattfinden. Eine Reihe von Sets wurden auf den Bühnen und im Backlot der Paramount Studios gebaut.
Für den Hauptteil der Produktion wählte Sandgren eine 35-mm-Kamera von Arri des Typs Arricam LT, die mit Atlas Orion Anamorphic- Objektiven ausgestattet waren (D-Vertrieb der Objektive: Xinegear). Das von Camtech in L.A. bereitgestellte Aufnahmepaket umfasste zudem auch eine weitere Arri-Filmkamera, eine Arriflex 435 mit sphärischen Objektiven. Mit dieser Kamera wurden die Schwarzweiß-Sequenzen des Films im Seitenverhältnis 1,33:1 gefilmt und auf Kodak Eastman Double-X Schwarzweiß-Negativfilm 5222 in 35 mm belichtet.
»Die Orion-Anamorphoten sind robuste, leistungsstarke Kinoobjektive, die technisch hervorragend sind«, sagt Sandgren. »Sie sind bis in den letzten Winkel scharf, selbst bei den Weitwinkelobjektiven, wenn ich eine klare Schärfe bei großen Totalen haben wollte — und sie sind selbst bei den Close-Ups nicht so dramatisch verzogen, wie andere traditionelle Anamorphoten. Sie haben zudem auch gute Nahfokus-Fähigkeiten und das ermöglichte es uns, mit einem 32-mm-Objektiv zu drehen und auf bis zu wenige Fuß Abstand an Gesichter ranzufahren.«
»Ich wollte dem Bild jedoch insgesamt eine punkigere und impressionistischere Haltung verleihen. Die Firmengründer von Atlas, Forrest Schultz und Dan Kanes, waren bereit, mit mir zusammen zu arbeiten, und sie passten die Orions für mich so an, dass die Lichter wirklich ausbrennen und die Lichtreflexe bei den verschiedenen Lichtverhältnissen, die wir schaffen oder vorfinden wollten, aufblühen konnten.«
Sandgrens bevorzugtes 35-mm-Filmmaterial war der Kodak Vision3 50D Farbnegativfilm 5203 für Außenaufnahmen bei Tag, Kodak Vision3 250D Farbnegativfilm 5207 für Innenaufnahmen bei Tag und der Kodak Vision3 500T Farbnegativfilm 5219 für schwache Lichtverhältnisse und Nachtszenen. Das belichtete Negativ wurde von FotoKem in Burbank entwickelt, wobei die 4K-Scans und Dailies von Matt Wallach bei Company3 überwacht wurden, der auch die Endkorrektur durchführte.
Das mag sich zwar wie eine ganz übliche Vorgehensweise einer klassischen Filmproduktion anhören, aber Sandgren sagt: »Um den kühnen, lebendigen und düsteren Look zu erreichen, den Damien und ich uns von Anfang an vorgestellt hatten, habe ich absichtlich alle Regeln gebrochen, wie man normalerweise Zelluloidfilm belichtet und entwickelt, und das ist sicherlich etwas, was man auf der Filmschule nicht lernt.«
»In der Praxis bedeutete das, dass ich, wenn es draußen hell war, wollte, dass das endgültige Bild superhell und ausgebrannt ist, um wirklich den Eindruck zu vermitteln, dass die Wüste eine heiße und feindliche Umgebung ist — so wie etwa am Anfang des Films. Also überbelichteten wir die 50D- oder 250D-Negative durchgängig um vier Blendenstufen, um diesen Look zu erreichen. Wenn wir eine dunkle Szene mit 500T drehten, verwendeten wir oft nur ein paar einzelne Belichtungsstufen, die weit unter dem Normalwert lagen, um eine ähnliche und angemessene emotionale Wirkung zu erzielen.«
»Aber wir haben es nicht dabei belassen. Ich habe dann alle unterschiedlich belichteten Filme im Labor im Push-Verfahren entwickelt. Bei dieser Technik muss das Negativ länger als normal im Entwicklungsbad liegen, was die visuellen Eigenschaften des Films verändert, indem die Farbsättigung erhöht, der Kontrast verstärkt und das Korn verstärkt wird.«
»Obwohl dies eine ziemlich extreme Methode war, funktionierte sie unglaublich gut, und Damien und ich waren immer begeistert von den Ergebnissen. Der Dynamikbereich von Dunkelheit zu Helligkeit in einigen der Aufnahmen bewegt sich genau an der Grenze, und es wäre schwierig, diesen extremen Kontrast digital zu erreichen, um ein zufriedenstellendes visuelles Ergebnis zu erzielen.«
»Das Ergebnis waren satte und prächtige Farben in den Szenen auf den verrückten Partys, die angemessen dekadent und diesen Momenten entsprechend aussehen. Unsere dunkelsten und bedrohlichsten Szenen sehen unglaublich düster und einhüllend aus. Durch die Farbwiedergabe und die Körnung wirkt jedes gefilmte Bild real und lebendig.«
Sandgren sagt, dass er auch bei der Beleuchtung der Sets einen impressionistischen Ansatz verfolgte — die Bühnenkonstruktionen wurden nur mit Scheinwerfern beleuchtet, die speziell für die damalige Zeit gebaut wurden, während die realen Schauplätze eher naturalistisch beleuchtet wurden, aber immer noch mit der Absicht, die schweißtreibenden, schmutzigen Texturen darzustellen.
»Alles in allem haben uns die Dreharbeiten mit den maßgeschneiderten Orion-Anamorphoten, die Überbelichtung des Films und die Push-Bearbeitung im Labor in jeder Einstellung des Films etwas anderes beschert«, fasst Sandgren zusammen. »Und als wir die Endkorrektur vornahmen, war es erstaunlich, wie viele Details im gefilmten Bild noch vorhanden waren, sowohl in den hellsten Lichtern als auch in den dunkelsten Bereichen des Bildes, was uns vom künstlerischen Standpunkt aus noch mehr Zufriedenheit verschaffte. Ich bezweifle, dass dies der Fall gewesen wäre, wenn wir digital gefilmt hätten.«
Sandgren bilanziert: »Man muss immer das richtige Werkzeug verwenden, um das Gefühl zu erzeugen, das man ausdrücken will. Film fühlt sich persönlicher an und spricht Emotionen gut an. Aus Erfahrung — bei Produktionen wie ‚American Hustle‘ und ‚La La Land‘ — weiß ich, dass es keinen besseren Weg gibt, eine Verbindung zu den Figuren in der Geschichte herzustellen, wenn sorgfältiges Produktions- und Kostümdesign mit der Textur und den dynamischen Farbmöglichkeiten des Films kombiniert werden. Film ist … einfach ausdrucksstärker und war die einzige Wahl, um ‚Babylon‘ zum Leben zu erwecken.«