Im Gespräch mit Heinrich Breloer
Alexander Bickel, WDR, interviewt den Filmemacher Heinrich Breloer zu seinem 80. Geburtstag.
Heinrich Breloer, geboren 1942 in Gelsenkirchen, ist ein preisgekrönter Regisseur und Autor und hat das Genre des Doku-Dramas entscheidend beeinflusst. Alexander Bickel, geboren 1969 in Landsberg am Lech und aufgewachsen in München, leitet seit 2019 den Programmbereich Fiktion im WDR und war in den vergangenen 20 Jahren an der Entwicklung vieler erfolgreicher Fernsehfilme, -reihen und -serien beteiligt.
Den 80. Geburtstag Heinrich Breloers nahm Alexander Bickel nun zum Anlass für ein umfassendes Interview mit dem Filmemacher, das film-tv-video.de mit freundlicher Genehmigung des WDR veröffentlicht.
Alexander Bickel: Herr Breloer, Sie sind berühmt dafür, in Ihren Gesprächen eine Intimität herzustellen, die zu jenen besonderen Momenten führt, die wir aus Ihren Filmen kennen. Deshalb frage ich den Meister der Eröffnungen: Was würde Heinrich Breloer zu Beginn dieses Interviews Heinrich Breloer fragen?
Heinrich Breloer: Also, ich nehme mal das Beispiel Golo Mann, der in Interviews immer sehr staatstragend gesprochen hat. Er wollte, dass ich ihn in Köln besuche, weil er im Krankenhaus lag und sich langweilte. Meine Idee war, beim WDR einen Wagen mit Monitor und Videorekorder zusammenzustellen und ihm Filme vorzuspielen. Dazu brachte ich ihm rote Grütze von einem Feinkosthändler – gegen die Mahlzeit im Krankenhaus jedes Mal ein Volltreffer. Es war immer das gleiche Ritual: Filme, rote Grütze und Erzählen.
Als ich dann nach Zürich kam, war die Atmosphäre dort genau so entspannt wie auf der Krankenstation. Wir haben ganz beiläufig über alle möglichen Dinge gesprochen. Ich fragte: »Wie ist denn die Temperatur im Zürichsee? Wann gehen Sie im Frühjahr baden? Da ist ein Pool, waren Sie mal mit der Mutter in diesem Pool? Wie war das eigentlich, wenn Ihr Bruder Klaus zu Hause ganz offen über seine Leidenschaft zu jungen Männern berichtet hat und sogar Freunde mitbrachte?«
Dann hat Golo Mann ebenso entspannt und beiläufig im selben Tonfall geantwortet, in dem ich ihn gefragt hatte. Und das ganze Staatstragende in seiner Haltung war raus.
Alexander Bickel: Wurde er nicht durch den technischen Aufwand eines Filmteams abgelenkt?
Heinrich Breloer: Nein, denn wir haben sein Wohnzimmer nicht in ein Studio verwandelt. Das ist eine unselige Krankheit von Fernsehinterviews. Wir haben keine Scheinwerfer aufgebaut, höchstens mal eine 100er-Glühbirne eingeschraubt. Der Tonmann lag unterm Tisch. Er sollte nicht ablenken. Auch Horst Königstein lag unterm Tisch und reichte mir gelegentlich von unten diskret einen Zettel mit einer Frage, die ich noch stellen sollte. Golo Mann saß an seinem Lieblingsplatz, trug eine gemütliche Strickjacke und fühlte sich wohl. Das Gespräch wurde immer privater und persönlicher.
Alexander Bickel: Sie haben wie kein zweiter Filmemacher das Genre des Doku-Dramas geprägt. Wie kam es eigentlich dazu?
Heinrich Breloer: Wir haben uns schon 1981 bei dem Film »Das Beil von Wandsbek« gesagt: Wir drehen die Recherche mit. Es gab keine Vorgespräche. Unser Kameramann Klaus Brix hat alles von der Schulter gedreht, mit wenig zusätzlichem Licht. Wir ließen uns einfach von dem inspirieren, was da war. Ich ging mit den Gesprächspartnern auf eine Suche. Mir ging es um das erforschende Fernsehen, nicht um das Behauptungsfernsehen.
Wir wollten keine Texte auf einen Bildteppich herunterdonnern, der mit dem Text nur ganz allgemein in Beziehung stand. So sind die Aussagen vom Zuschauer gar nicht richtig zu kontrollieren. Wir wollten die Zuschauer an der Entdeckungsreise beteiligen.
In dem Fall die Kinder von Speer auf der Suche nach dem Vater begleiten. Sie wussten eben auch nicht so genau über seine Verbrechen Bescheid. Wie wir alle nicht über unsere Eltern Bescheid wussten, was sie genau in den Jahren von 1933 bis 1945 getan hatten.
Alexander Bickel: Im Schneideraum kommt dann aber doch die nächste Suche: nach dem Erzählfaden. Nach welchen Kriterien haben Sie Spielszenen und Dokumentarisches kombiniert?
Heinrich Breloer: Erst einmal wollten wir Material im Schneideraum haben, das authentisch war. Vor allem die Gespräche sollten die Menschen ganz bei sich zeigen. Den Moment dokumentieren, in dem sie für sich eine Entdeckung über den Vater machen und wie sie damit umgehen. Solche Momente konnten wir dann im Schneideraum mit den Momenten aus den Spielszenen montieren – sozusagen zwei starke Informationen, zwei starke Gefühlsmomente gezielt aufeinander prallen lassen.
Klaus Mann liegt in Cannes auf dem Sterbebett. Wir sehen im Spiel die Momente seines Lebens: das Glück und das Leid. Der Sarg im Grab wird zugeschüttet – dann die Stimme von Thomas Mann aus dem Off, er hätte das der Mutter nicht antun können – der Bruder Michael als einziges Mitglied der Familie läuft zum Grab und spielt auf der Geige für den Toten »Parlez moi d’amour«. Und nun kommt in der Doku die Schwester Elisabeth auf den Friedhof – das zugewucherte Grab – der erste Besuch überhaupt von der Familie – der Schmerz ihrer Seele. Das ist das Neue: Deutlicher als jede Behauptung in einem Text erleben wir die Gegenwart der Vergangenheit.
Im Auge des Betrachters entsteht dabei etwas, das weder der Spielfilm noch die Dokumentation bewirken können. Als mir das im Schneideraum zum ersten Mal bewusst wurde, habe ich mich ungefähr gefühlt wie Dr. Robert Koch, als er den Tuberkel gesehen hat. (lacht)
Alexander Bickel: Wer musste damals eher von dieser neuen Form überzeugt werden: der Sender oder die Zuschauer?
Heinrich Breloer: Es war ein großer Glücksfall, dass »Das Beil von Wandsbek« gleich einen Grimme-Preis erhielt. Der damalige Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen übergab mir die Auszeichnung in Marl. Das war wichtig, dass wir dort gesehen wurden, dass man uns von offizieller Seite sagte: Das habt ihr gut gemacht! Das war auch ein Signal an den Sender: Lass‘ die bloß weitermachen! Jörn Klamroth, der spätere WDR-Fernsehdirektor, sagte mir mal: Du brauchst nicht unbedingt Quote machen, aber bring‘ uns die Qualität und die Preise!
Alexander Bickel: Am Ende war es aber eine ansehnliche Mischung aus Preisen und Quote…
Heinrich Breloer: Nicht nur beim WDR sprach man gern von »Qualität in der Quote«. Der Zweiteiler »Todesspiel“ hatte zum Beispiel fünf Millionen Zuschauer. Im Vorfeld war man sich im Sender nicht sicher, ob die RAF nach 20 Jahren wirklich noch ein Thema ist, für das sich die Zuschauer interessieren.
Aber nach diesem großen Erfolg wurde deutlich: Der Film war nicht überflüssig, er war notwendig.
In Deutschland hatte sich bis dahin das alte Narrativ festgesetzt: Der Staat hat die Terroristen umgebracht, ihren Tod als Selbstmord inszeniert, wahrscheinlich mit Hilfe der GSG 9. Der arme Herr Baader, die arme Frau Ensslin. Aber 20 Jahre nach den Geschehnissen hat unser Fernsehspiel diesen Mythos, diese Lüge von der »Mordnacht von Stammheim«, aus der Welt geschafft, indem wir ein sehr plausibles anderes realistisches Narrativ von der Nacht in Stammheim gezeigt haben.
Alexander Bickel: Darüber hinaus haben Sie in »Speer und Er« mit dem von Albert Speer selbst kultivierten Mythos aufgeräumt, er sei ein Unschuldsengel im Hitler-Regime gewesen.
Heinrich Breloer: Dabei hatte er den mörderischen Größenwahn der Weltherrschaft gemeinsam mit Hitler geträumt, den Sieg der Herrenrasse und die Vernichtung aller Feinde.
Als der Krieg verloren war, wollte er nicht dabei gewesen sein. Er hat den Mythos des »anständigen Nazis« erfunden und verbreitet. Ein Widerspruch – entweder man ist Nazi oder anständig.
Alexander Bickel: Auch Uwe Barschel hat seine eigene Legende gestrickt, davon erzählen Sie in »Die Staatskanzlei«.
Heinrich Breloer: Sein Ehrenwort, er habe von den Machenschaften gegen Engholm nichts gewusst. Dabei hatte er doch einen Teil davon selber angeordnet.
Alexander Bickel: Und schließlich findet sich das Prinzip der Selbststilisierung auch bei den beiden großen Literaten Thomas Mann und Bertolt Brecht.
Heinrich Breloer: Thomas Mann in seinem Leid und seiner Größe, seiner Leistung, musste erst einmal den Deutschen vorgestellt werden. Diese Familie ist die interessanteste deutsche Familie des 20. Jahrhundert. »Die Manns – ein Jahrhundertroman« war der richtige Titel. Und der Film hat dem Dichter und der gesamten Familie einen enormen Aufschwung bei den Leser verschafft.
Und so, wie wir dann den Brecht erzählt haben, so kannten ihn viele Zuschauer gar nicht. Der Kampf und der Zorn Brechts gegen die Parteibonzen der DDR – diese »Murxisten«, wie er zornbebend herumschrie.
Alexander Bickel: Der Kommunist Wehner in Moskau vor der Wandlung zum Sozialdemokraten – Täter und Opfer zugleich; »Kollege Otto«, ein ehemaliger Färbergeselle, der sich als Chef der Coop am Vermögen der Kollegen vergreift – immer ist es die Korrektur der falschen Erzählungen. Ist das der rote Faden Ihrer Arbeit?
Heinrich Breloer: Ich wollte diese falschen, irreführenden Narrative, die sich oft als Mythos festgesetzt hatten, auflösen, ja aufbrechen und neu erzählen. Ich wollte im Dienst und im Auftrag des Öffentlich-Rechtlichen die alternativen Fakten durch die wirklichen Fakten austauschen, aber das auf eine unterhaltende Art und Weise machen.
Das »Todesspiel« kann man sich auch heute noch gut anschauen. Ich muss da nichts ändern. So erfährt die nächste Generation, die vielleicht schon wieder falsche Fakten von ihren Eltern bekommen hat, aus welchen Leuten die RAF bestand. Wo wären wir hingekommen, wenn wir sie damals freigelassen hätten? Wenn sie weitergemordet und triumphiert hätten, wie schwach der Staat ist? Diese Sorgen waren der Antrieb des damaligen Bundeskanzlers Schmidt. Es gibt kein Instrument, kein Buch, keine Zeitung, die diese Fragen so deutlich und intensiv beantworten können wie das Fernsehen.
Alexander Bickel: Das »Todesspiel« enthält auch einen der seltenen Momente, in denen man Helmut Schmidt sprachlos erlebte.
Heinrich Breloer: Schweigen wird oft unterschätzt in einem Interview. Dabei ist es manchmal besser, nichts zu sagen. Ich wollte von Helmut Schmidt wissen: »Wie war das an dem Tag, als Hanns Martin Schleyer über die Videos der RAF zu Ihnen sprach und um sein Leben flehte?« Man hört dann nur das schwere Atmen vom Helmut Schmidt. Man merkte, dass er Schleyer am liebsten mit einem Schlag befreit hätte, aber er durfte das nicht.
Dieser stille Moment war viel intensiver, als wenn ich plötzlich eine Spielszene eingefügt hätte. Die Spielszene – Schmidt vor dem Monitor – und dazu das Doku-Material, in dem Schleyer zu ihm spricht und um sein Leben kämpft, das ist dann wiederum in dieser Montage viel intensiver geworden.
Alexander Bickel: Dennoch haben Sie gern auf Spielszenen gesetzt und mit den »Buddenbrooks« sogar einen Kinofilm gedreht.
Heinrich Breloer: Horst Königstein und ich wollten die Mittel des Kinos, die uns schon immer gefallen haben, nutzen: große Bilder und dieses magische Licht.
Horst Königstein war mal Filmkritiker, und ich bin mit dem Kino aufgewachsen. Wenn ich es zusammenrechne, habe ich vielleicht so an die 20.000 Filme gesehen, und fast jeden Tag kommen zwei weitere Filme hinzu.
Aber im Internat, in dem ich aufwuchs, waren Filme verboten. Wenn ich am Wochenende nach Hause kam, holte ich das nach.
Wir hatten sechs oder sieben Kinos in Marl. Die Bergarbeiter gingen oft dahin, weil sie bei der Arbeit unter Tage nichts sahen. Also wollten sie zumindest im Kino weite Landschaften erleben: »Schwarzwaldmädel« und die unzerstörte Natur. Dort hatte kein Krieg stattgefunden, während man in Marl noch die Spuren des Krieges sah.
Alexander Bickel: Durch das Hotel Ihrer Eltern in Recklinghausen kamen Sie schon früh mit Schauspielern und Regisseuren in Kontakt.
Heinrich Breloer: Richtig, sie wohnten bei uns, wenn in der Nähe eine Filmpremiere stattfand. Ich erinnere mich zum Beispiel an Hardy Krüger und Marion Michael, die in einem Bochumer Kino zur Premiere von »Liane – Das Mädchen aus dem Dschungel« gingen. Ich fuhr mit nach Bochum und schmachtete Marion Michael an. Abends saßen noch alle an unserer Bar. Da kam es einmal zum Streit, weil sich ein Gast an Marion Michael ranmachen wollte und Hardy Krüger das verhinderte.
Jahrzehnte später hat Horst Königstein ein Musical über Marion Michael gemacht, und ich habe sie als gebrochene Frau erlebt, die ein furchtbares Leben hinter sich hatte.
Alexander Bickel: Später haben Sie dann als Regisseur selbst mit Schauspielern internationalen Ranges gearbeitet, darunter Armin Mueller-Stahl, der Thomas Mann gespielt hat. Wie kam es zu dieser Besetzung?
Heinrich Breloer: Die Frage lautete: Wer kann Thomas Mann spielen? Nur einer, dem man zutraut, die »Buddenbrooks« geschrieben zu haben. Und das ist Armin.
Wir haben gute Schauspieler in Deutschland, aber ich kann den Zuschauer nicht jemanden, den man ständig als »Tatort«-Kommissar sieht, als Thomas Mann vorstellen.
Der Thomas Mann muss so wirken, als komme er aus einer anderen Welt. Armin hat Thomas Mann niemals nachgeäfft. Er war Thomas Mann. Er musste sich nicht im Spiel verstellen. Es war seine Aura.
Alexander Bickel: Eine Persönlichkeit wie Armin Mueller-Stahl am Set, das war sicher interessant.
Heinrich Breloer: Wir mussten uns aneinander gewöhnen. Er wird sich gefragt haben: Wer ist dieser Breloer? Und ich hatte von anderer Seite gehört, wie er reagiert, wenn man sein Spiel kritisiert und korrigieren will. Dann sagte er: »Tut mir leid, besser kann ich nicht spielen.«
Wir drehten nun die erste Szene in Frankreich: Thomas Mann öffnet einen Koffer, in dem seine Tagebücher sind, die von der Gestapo gegen ihn verwendet werden können. Ich hatte mit meinem großartigen Kameramann Gernot Roll besprochen, dass wir nur Armins Augen sehen, wenn er den Koffer öffnet. Das Glück, seine intimen Bekenntnisse den Nazis entrissen zu haben. Armin legte für mein Gefühl eine viel zu große Intensität für die nahe Einstellung in seine Augen, seine Gesten. Während ich bleich wurde und überlegte, wie er wohl gleich auf meine Kritik reagieren wird, sagte Gernot Roll: »Armin, ich muss mich entschuldigen, ich habe mich verschwenkt.«
Alexander Bickel: Kluger Schachzug!
Heinrich Breloer: So konnte ich sagen: Wenn wir das eh noch mal machen, vielleicht könnten Sie bei der Gelegenheit alles etwas runterfahren und nur flüstern? Das tat er dann auch und merkte allmählich, dass wir Großes mit ihm vorhatten. Und er hat uns gezeigt, was für einen großartigen Thomas Mann er uns geschenkt hat. Es war am Ende eine wunderbare Freundschaft, die bis heute gehalten hat.
Alexander Bickel: Sie haben Gernot Roll erwähnt. Wodurch zeichnete sich Ihre lange Zusammenarbeit aus?
Heinrich Breloer: Das lief mit uns beiden so gut, dass wir oft wie ein altes Ehepaar angesprochen wurden.
Ich hatte Gernot in Marl kennengelernt, als wir beide einen Grimme-Preis bekamen. Er saß an der Bar und ich fragte ihn: Können wir nicht mal einen Film zusammen machen? Er reagierte sehr offen darauf. Dass ich solch einen erfahrenen Kinoprofi hinzuziehen durfte, lag auch daran, dass wir mit der Bavaria produzierten. Das lag indirekt auch am WDR. In einer ersten Phase des Sparens sagte mir dort jemand: »Herr Breloer, Sie machen Torten, aber wir backen nur noch kleine Brötchen. Gehen Sie zur Bavaria! Da haben Sie den Vorteil, dass Sie die Honorare verhandeln können.«
Alexander Bickel: Aber der WDR hat sich ja als Koproduzent weiter an Ihren Projekten beteiligt.
Heinrich Breloer: Friedrich Nowottny, der als WDR-Intendant ein strenger Rechner war, sagte einmal: »Herr Breloer, wir haben erhebliche Mittel in Sie investiert. Aber ich muss sagen, es hat sich gelohnt!«
Sein Nachfolger Fritz Pleitgen rief mich manchmal an und sagte: »Herr Breloer, kommen Sie rüber zum Essen! Sie sind meine Sonne an diesem trüben Tag. Kommen Sie zum Italiener.« Er ließ sich berichten und sagte dann begeistert: »Und machen Sie bloß weiter!«
An solchen Tagen wusste ich: Wir werden geliebt. Diese Anerkennung für unsere Arbeit war mir viel wichtiger als das Finanzielle. Obwohl: Wenn das Geld kommt, liegt auch Segen auf der Sache.
Alexander Bickel: Aus Anlass Ihres 80. Geburtstags wiederholt der WDR einige Ihrer wichtigsten Projekte und stellt sie auch in der ARD Mediathek bereit.
Heinrich Breloer: Davon habe ich gehört — und das gefällt mir. Wenn ich heute auf mein Werk zurückblicke, kann ich für jeden einzelnen Film geradestehen. Kürzlich habe ich noch einmal »Brecht« gesehen. Der ist recht schwierig, den hätte ich einfacher machen können. Aber ich wusste, es wird so schnell kein Film mehr in dieser Art gedreht werden.
Alexander Bickel: Sprechen wir über das Fernsehen im Jahr 2022. Einerseits wird mehr fiktionales Programm produziert als jemals zuvor, andererseits wird das Ende des Fernsehens, wie wir es kennen, vorausgesagt. Wie sieht Heinrich Breloer die Lage?
Heinrich Breloer: Wir haben das Problem, dass die Zeit der Zuschauer begrenzt ist. Sie können nicht gleichzeitig zwei Filme oder Serien anschauen. Sie geben uns ihre Zeit, ihre Lebenszeit. Und damit müssen wir vorsichtig umgehen.
Gerade das öffentlich-rechtliche Fernsehen muss sich aber auch gegen Mitbewerber aufstellen, die ganz klar sagen: Wir machen Programm, um Geld zu verdienen. Das heißt Quote. Das ist auch in Ordnung. Aber das hat auch Konsequenzen, die mich nachdenklich machen.
Alexander Bickel: Woran denken Sie ?
Heinrich Breloer: Was auf meinem Gebiet passiert. Wenn es um historische Figuren — große Personen der Zeitgeschichte — geht, da werden immer mehr Türen für die fiktionale Ausgestaltung geöffnet. Personen und Ereignisse hinzuerfunden, die den Tatsachen nicht mal den Möglichkeiten dieser Person entsprechen. Als ob es Comic-Figuren wären, mit denen man zur Unterhaltung fürs Publikum herumspielen kann. Aber Sigmund Freud zum Beispiel ist keine groteske Comic-Figur. Er ist mit seiner Entdeckung des Unterbewusstseins der große Aufklärer und Bescheidgeber über uns Menschen. Das aufzudecken, dafür eine Handlung und Bilder zu finden, wäre spannend und wertvoll für unsere Gesellschaft. Warum sollen die Jugendlichen denken, Sigmund Freud wäre, wie bei Netflix, eine alberne Figur aus einem Krimi gewesen. Es gibt schon genug Geschichtsvergessenheit in unserer Gesellschaft.
Alexander Bickel: Wie lässt sich diese Entwicklung aufhalten?
Heinrich Breloer: Wir müssen besonders gutes Fernsehen machen. Ich erinnere mich an die Worte von Egon Monk, einem ehemaligen Brecht-Schüler, der später beim NDR die Fernsehspielabteilung leitete. Er sagte mir mal: »Am Anfang haben wir die Stoffe, die wir verfilmen, aus dem Bücherschrank genommen. Dann griffen sie zu den Kitschromanen und am Ende greifen sie jetzt zu den Heftchen, die am Kiosk verkauft werden!«
Damals hat man aber nach dem Prinzip von Adolf Grimme gearbeitet. Es lautete: Die Menschen sollen sehen, was sie sehen wollen (kurze Pause) sollen. Dahinter steckte ein Erziehungsauftrag. Sie, lieber Herr Bickel, sind nicht zu beneiden, weil Sie gerade einen großen Umbau meistern müssen, ohne immer das nötige Geld dafür zu haben.
Alexander Bickel: In diesem Punkt bin ich optimistischer als Sie. Das öffentlich-rechtliche Fernsehen bietet den Zuschauer, was sie auch in der Vergangenheit von uns erwartet haben, nämlich gutes Programm. Und das haben wir immer auch von Ihnen bekommen, Herr Breloer. Das wissen wir zu schätzen, und dafür danken wir Ihnen.