Anamorphoten: You’ve Got the Look
Der aktuelle Trend zum Drehen mit Breitbild ist unübersehbar. Wege, wie man mit günstigen Anamorphoten zum Ziel kommen kann: Vintage-Projektionsobjektive.
Dem Drehen mit anamorphotischen Objektiven haftet ein besonderes Odium an — besonders wenn mit Vintage-Objektiven gedreht wird: Es ergibt sich nämlich ein spezieller Look. Dem eifern viele Enthusisasten nach — und greifen dabei zu ungewöhnlichen Wegen.
Die Grundidee beim Drehen mit einem Anamorphoten ist, ein Bild bei der Aufnahme horizontal zu stauchen, um hier möglichst viel Bildinformation zu erhalten. Im Schnitt oder bei der Projektion im Kino wird das Bild dann wieder entstaucht. In der Frühzeit dieser Technik konnte man die gleichen — und teilweise sogar dieselben — Objektive in einer Richtung zum Drehen und in der anderen Richtung zum Projizieren verwenden. Das eröffnet einige Besonderheiten, die im weiteren erläutert werden.
»Breitbild« oder »CinemaScope«, ist ursprünglich eigentlich ein Kino-Thema, setzt sich aber auch im Netz zunehmend durch. Bekannte Cinemascope-Filme sind etwa »Apocalypse Now«, »Blade Runner«, »Indiana Jones«, »Mission Impossible«, einige »Star-Wars«-Teile. Das gängigste anamorphotische Verfahren ergibt bei der Wiedergabe ein Bildseitenverhältnis von 1:2,40 oder 1:2,35,
Das Besondere an dieser Technik — über das breitere Seitenverhältnis hinaus — ist eine ganz bestimmte Bildcharakteristik. Man könnte auch sagen: Es sind sind die speziellen Optikfehler. Am bekanntesten — und das nicht zuletzt durch Filme von Michael Bay zum Kult geworden, wie die »Transformer«-Reihe — sind die horizontalen Flares. Auch das Bokeh ändert sich: Das sieht man am besten bei Spitzlichtern, die nicht im Fokus liegen, denn diese sind nicht rund, sondern oval.
Technnikgeschichte
Um zu verstehen, wie das ganze System funktioniert, muss man etwas in die Geschichte eintauchen.
Wie so oft liegen die Ursprünge hier in der Militärtechnik. Um ganz genau zu sein, finden sich erste anamorphotische Ansätze bereits im 17. Jahrhundert in der Malerei.
Stellen wir uns einen U-Boot- oder Panzerkommandanten mit seinem Periskop vor. Er möchte gerne die Umgebung seines Gefährts erkunden. Durch sein Periskop kann er Feinde in der Ferne gut sehen, da dieses optische Gerät ähnlich wie ein Fernrohr auch vergrößert. Allerdings befinden sich vielleicht rechts und links vom betrachteten Feind noch weitere Personen. Also wäre es praktisch, ein Linsensystem zu entwickeln, das sowohl den Telebereich abdeckt als auch in der Horizontalen weitwinklig ist, um möglichst viel vom Feld oder dem Meer zu sehen: Also sozusagen zwei unterschiedliche Brennweiten für die Vertikale und Horizontale in einem.
Das beschreibt ein anamorphotisches Objektiv relativ gut. Überträgt man das in in die Filmwelt, sieht es folgendermaßen aus: Ein anamorphotisches 50mm-Objektiv mit einer 2fach-Stauchung hat in der Vertikalen tatsächlich 50 mm Brennweite. Da durch den anamorphotischen Linsenblock das Bild aber in der Horizontalen um den Faktor 2 gestaucht wird, haben wir hier 25 mm und nehmen doppelt so viel Bildbreite auf.
Die 2fach-Stauchung eignet nahezu perfekt für 4:3-Sensoren, da sich daraus mit wenig Crop beim Abspielen ein 1:2,40-Bild ergibt. (Eine Stauchung um den Faktor 1,33 wäre ideal für 16:9-Sensoren.)
Und mit dem Stichwort 4:3 komme ich nun auch endlich zu den Anfängen des anamorphotischen Verfahrens im Filmbereich, denn analoger fotochemischer 35-mm-Film hat ein 4:3-Bildfeld.
Die Filmstudios suchten in den 1950er- und 60er-Jahren nach Innovationen. Das waren etwa 3D- und Cinerama-Versuche, die das Publikum aber nicht lange bei Laune hielten, weil sie noch nicht so ausgereift waren. 20th Century Fox sprang schließlich auf den Breitbild-Zug auf und kaufte die von Henri Jacques Chrétien (einem französischen Astronom und Erfinder) schon viel früher erfundene anamorphotische Technik. Chrétien nannte sein erstes Objektiv Hypergonar. 20th Century Fox verwandte es für den 1953 erschienenen Film »The Robe« (deutsch: »Das Gewand«, Regie Henry Koster) und nannte das Ganze CinemaScope.
Dieser Marketingbegriff ist heute noch Synonym für das anamorphotische Verfahren, obwohl es ja eigentlich ein von Fox eingetragener Markenname ist (vergleichbar verhält es sich etwa auch mit der Bezeichnung »Steadicam«).
Rechnerisch erlaubte das anamorphotische CinemaScope-Verfahren mit dem Stauchfaktor 2 ein Bildseitenverhältnis von 1:2,66. Mit schmaler Magnetton-Randspur auf der Vorführkopie war dann ein Bildformat von 1:2,55 und mit einer Lichtton-Spur auf der Vorführkopie 1:2,35 möglich.
Das ist insofern interessant, als es in der folgenden Zeit sehr viele Änderungen der Bildfläche gab, wobei die Anamorphoten, also Aufnahme- und Projektionsobjektive, in der Regel den Faktor 2 für Stauchung beziehungsweise Entzerrung beibehielten.
Um das Ganze etwas zu vereinfachen, kann man sagen, dass die Filme bis 1957 für Vorführung in 1:2,55 gedreht wurden, danach verkleinerte sich die vorgeführte Bildfläche ein kleines bisschen, unter anderem, um den Übergang an der Klebefläche des Filmstreifens zu kaschieren. Von 1958 bis circa 1970 war das Bildseitenverhältnis 1:2,35 en vogue, danach dann 1:2,39, was heute noch (SMPTE-) Standard ist.
Generell ist heutzutage dieses Format gemeint, auch wenn man die Begriffe CinemaScope, 2,35 oder 2,40 benutzt.
Natürlich wollten zur Zeit des Aufkommens der anamorphotischen Technik andere Filmstudios ebenfalls ein Stück vom frisch gebackenen Kuchen haben — und so entstanden, um Lizenzgebühren zu vermeiden, die verschiedensten Namen, die sich aber alle auf dieselbe Technik bezogen. Panavision machte sich hier einen Namen, denn die Firma entwickelte hochwertige anamorphotische Optiken mit wenig Verzerrungen im Nahbereich.
Praktisch für die gesamte blieb die Verwertungskette gleich, da ja nur die Optiken der Aufnahmekameras und Kinoprojektoren ausgetauscht werden mussten: Kameras, Filmmaterial und Projektoren blieben gleich.
Mit Aufkommen des Super-35mm-Formats und später der digitalen Filmtechnik verlor das Verfahren etwas an Popularität, besonders in Deutschland.
Um nun auch an Digitalkameras die anamorphotische Aufnahmetechnik einsetzen zu können, brauchte man idealerweise einen 4:3-Sensor. Dies bediente Arri dann mit der Alexa Studio, und weitere Hersteller zogen nach. Auch wollen heute viele Filmemacher dem digitalen Look entfliehen und nutzen das anamorphotische Verfahren nicht zuletzt auch aus nostalgischen Gründen. So kam es zu einer Art Renaissance, und nach der ersten »Avatar«-3D-Welle konnte man beobachten, dass von den Geräteverleihern wieder mehr anamorphotische Objektive angeboten wurden.
Look: Was macht ihn aus, den anamorphotischen Look?
Die Flares und das ovale Bokeh, ebenso die zwei unterschiedlichen Brennweiten, wodurch ebenfalls zwei unterschiedliche Nodalpunkte für die Lichteinstrahlung entstehen — einer für die horizontalen, einer für die vertikalen Strahlen — sind wichtige Elemente des speziellen Looks. Gerade dadurch und durch eine gewisse Randunschärfe in Verbindung mit einer leichten Bildkrümmung entsteht der spezielle Look, den viele auch als 3D-ähnlich bezeichnen. Die Schauspieler erscheinen separierter vom restlichen Bild, und ihre Gesichter wirken voller, das Wort »organisch« fällt hier oft zur Beschreibung.
Durch die speziellen (und vielen) Linsenelemente haben die Highlights ein ganz spezielles Leuchten. Kameraleute werden hier wahrscheinlich jeweils ganz unterschiedliche Charakteristiken hervorheben, was die Komplexität des Ganzen zeigt.
Ebenso komplex sind die Optiken selbst. Frühe Objektive bestanden aus einem anamorphotischen Block mit zylindrischen Linsenelementen und dahinter einer normalen sphärischen Linse. Dies alles musste zusammen und parallel fokussiert werden. Hier hat die Firma Isco am 30. März 1976 ein Patent eingereicht, das dieses parallele Fokussieren von anamorphotischen und sphärischen Linsenelementen obsolet machte – fokussieren musste man damit nur noch mit dem anamorphotischen Vorsatz, in dem zusätzlich ein variabler Diopter saß. Hier ein Auszug aus dem Patent:
»The front component may include a substantially afocal pair of spherically curved lenses of opposite re fractivity, either or both of these lenses being axially shiftable to focus the objective; if this objective is equipped with its own focusing means, the latter may be immobilized in a predetermined position (preferably set for infinity) so that all the focusing may be carried out with the aid of this lens pair.«
Durch die vielen Linsengruppen und den speziellen Einsatzzweck sind die Objektive nicht gerade billig. Und eben diese vielen Linsen sind auch für die charakteristischen Bildfehler oder Besonderheiten verantwortlich. Da die Brennweite anamorphotischer Aufnahmeobjektive bei gleichem Bildwinkel doppelt so lang ist wie bei normalen sphärischen Aufnahmeobjektiven, wird der Hintergrund natürlich öfter unscharf. Hier ist es gerade bei anamorphotischen Optiken wichtig, ein schön ovales Bokeh zu bekommen. Darum sollten diese Objektive möglichste viele Blendenlamellen vorweisen.
Neben dem bereits erwähnten variablen Diopter von Isco, der vor dem anamorphotischen Block sitzt, gibt es noch andere technische Lösungen zum Fokussieren. Oft werden die sphärischen und anamorphotischen Linsengruppen parallel zueinander fokussiert, was eine unglaublich ausgereifte Technik verlangt und in der enormen Größe der Objektive resultiert.
Eine weitere Variante sind die »rear anamorphic adapter«. Hier wird die verzerrende Linse zwischen Sensor und das eigentliche Objektiv gebaut. Da bei dieser Variante aber alle anamorphotischen Bildeigenschaften auf der Strecke bleiben, wird sie oft nur genutzt, um möglichst viel Bildinhalt zu generieren. Arri hingegen hat ein völlig neues System entwickelt. Da sind wir wieder bei der Komplexität, daher möchte ich an dieser Stelle nicht weiter in die Bauweise vordringen, das würde den Artikel sprengen.
Erwähnenswert wäre hier noch die Firma Isco Göttingen, die Teil der Schneider-Kreuznach-Gruppe ist. Isco stellte schon ziemlich früh sehr hochwertige Optiken sowohl für Kameras als auch Projektoren her. Das Iscorama 36 und 54 waren Ende der 1970er-Jahre anamorphotische Vorsatzlinsen, die man einfach vor seine normalen Kameraobjektive schrauben konnte. Fokussiert wurde nur am Vorsatz; allerdings haben die Iscoramas nur einen 1,5fach-Stauchfaktor. Diese Objektive sind die Vorreiter des aktuellen DIY-Trends, bei dem anamorphotische Objektive von Projektoren vor normale Objektive gesetzt werden. Dazu später mehr.
Hersteller: Cooke, Kowa, Vantage, Atlas, Panavision, Angénieux, Arri/Zeiss
Weitere Hersteller von anamorphotischen Objektiven sind und waren Kowa aus Japan, Vantage Film mit den Hawk-Optiken aus Deutschland, Atlas mit der Orion-Serie und natürlich Panavision, Angénieux, Cooke und Arri in Zusammenarbeit mit Zeiss.
So unterschiedlich die Hersteller, so unterschiedlich der Look. Cooke-Objektive sind bekannt für ihren Vintage-Look, und auch Vantage Film hat eine Vintage-Serie. Die alten Kowa-Objektive werden aktuell von P+S Technik rehoused angeboten. Einen etwas moderneren Bildeindruck erzeugen die ab 2013 von Arri/Zeiss angebotenen Anamorphic Master Primes.
Der aktuelle Trend geht zu einem 1,8fach-Stauchfaktor, einem Sweetspot, bei dem möglichst viel anamorphotischer Charakter erhalten bleibt und circa 90 Prozent der Sensorfläche ausgenutzt wird.
Da die Objektive, wie erwähnt, selbst im Verleih sehr teuer sind, lohnt es sich natürlich, für kleinere Projekte nach Alternativen zu suchen.
DIY-Welle: Projektionsobjektive
Die erste große Do-it-yourself-Welle startete nach der Umstellung von analog auf digital bei den Kinos. Die zwar alten, aber sehr hochwertigen Projektionsobjektive, mit denen das anamorphotisch gestauchte Bild wieder entzerrt wurde, brauchte man nun nicht mehr. Findige Bastler haben die teilweise recht schweren Objektive vor ihre Kameras gebaut, ähnlich wie bei den oben erwähnten Iscorama-Objektiven.
Dadurch ergibt sich ein anamorphotischer Block, der vor einem sphärischen Objektiv sitzt — ähnlich funktionieren ja eigentlich auch die Objektive der großen Hersteller.
Naja, bis auf das Fokussieren… Zunächst gab man sich mit Doppelfokussieren zufrieden, also das anamorphotische Vorsatzobjetiv und das sphärische dahinter parallel zueinander einzustellen. Irgendwann kamen dann variable Diopter auf den Markt, die man vor das anamorphotische Objektiv setzt und nur noch damit die Schärfe einstellt. Damit funktionieren die (simplen) Projektionsobjektive nun wie ein Iscorama.
Neben den großen, für 35mm-Film ausgelegten Modellen gibt es noch kleinere, teilweise für 16 oder sogar 8mm. Ein gutes Beispiel ist hier das 8mm-Modell von Isco mit dem Namen Inflight, welches in Flugzeugen eingesetzt wurde.
Wenn man also ein gutes und scharfes Projektionsobjektiv, einen guten variablen Diopter und ein gutes sphärisches Objektiv mit möglichst vielen Blendenlamellen hat, lässt sich ein sehr hochwertiges Setup zusammenstellen. Mittlerweile gibt es Fassungen und Adapter, um die Projektionsobjektive möglichst aufwandfrei an die Kamera zu montieren und die Brennweiten zu wechseln. Rapido Technology aus den USA hat sich hierauf spezialisiert und bietet für fast jedes alte Objektiv Adapter an.
Einzig auf die Brennweite muss man achten, denn diese Objektive sind natürlich darauf ausgelegt, das Bild auf eine gewisse Entfernung zu werfen, und so vignettieren viele bereits an Vollformat ab 50mm und abwärts.
Wer bei Ebay sucht, findet übrigens noch Linsen mit der Bezeichnung Hypergonar. Mit einem Hypergonar-Objektiv von Henri Jacques Chrétien wurde der wohl erste anamorphotische (Kurz-)Film »Construire un feu« Ende der 1920er-Jahre im Verhältnis 1:2,66 gedreht.
Zweiter Schub: GH5
Den zweiten »Schub« läutete dann Panasonic ein, als die GH5 mit 4:3-Sensor und anamorphotischer Entzerrung in der Kamera herauskam. Die Gebrauchtpreise für Projektionsobjektive stiegen in die Höhe, es wurde gekauft und verkauft, gehortet und spekuliert.
So erhielten alte Projektionslinsen neuen Glanz. Neben den bereits erwähnten Iscoramas sind Modelle von Kowa und Möller sehr gefragt, da diese kompakt gebaut sind und einen sehr speziellen Vintage-Look erzeugen.
Dem wachsenden Interesse geschuldet, entstanden hier und da Startups, die günstige anamorphotische Einsteigerobjektive versprachen. Siriu und Vazen wären hier als Hersteller zu nennen, die relativ günstige Objektive anbieten. Von Zwischenlösungen wie zum Beispiel SLR Magic ist hingegen aus Sicht des Autors eher abzuraten.
Auch die Projektionsobjektive gibt es im modernen »cleanen« oder im Vintage-Look. Ein weiteres Beispiel zeigt ein weiteres Video zum Abschluss dieses Artikels.
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