Warum 360-Grad-VR noch sehr lang eine Nische bleiben könnte
Schon seit einiger Zeit stehen VR, AR und 360-Grad-Filme oben auf der Liste technischer Innovationen in der Bewegtbildbranche. Dabei wird viel technisch und wissenschaftlich diskutiert, ausprobiert und erforscht. Leider geht es dabei aber viel zu oft darum, mit Begriffsdefinitionen um sich zu werfen und dem Ganzen einen High-Tech-Anstrich zu verpassen. Der Anwender bleibt oft außen vor.
So bleibt in Fachkreisen oft unbemerkt, dass sich die meisten Endkunden gar nicht für irgendwelche technische Feinheiten und Finessen interessieren, dass sie die Produkte gar nicht bis ins feinste Detail durchschauen, sondern sie lediglich nutzen wollen — und dabei Spaß oder praktischen Nutzen daraus ziehen. Das gilt in zahllosen Produktkategorien und 360-Grad-VR dürfte hier keine Ausnahme sein.
Deshalb wollen wir an dieser Stelle mal allen Ballast abwerfen und einfach nur von 360-Grad-VR sprechen und dabei alles in einen Topf werfen: VR, AR, »gamifizierte« 360-Grad-Filme, interaktive Experiences und was es sonst noch alles in diesem Umfeld gibt.
Was führt zu Massentauglichkeit?
Über die Massentauglichkeit und Durchsetzung einer Technologie im Markt entscheiden oft ganz einfache Dinge und Faktoren, die von den Herstellern und Anbietern falsch eingeschätzt oder gar völlig außer Acht gelassen wurden. Warum wurde VHS seinerzeit zum erfolgreichsten Heimvideosystem? Weil es die beste Technik und höchste Bildqualität in sich vereinte? Nein, weil man in diesem Format Pornos kaufen, ausleihen und zuhause kopieren konnte.
Das soll keineswegs heißen, dass es zwingend pornografische VR-Erlebnisse geben müsste, um dem 360-Grad-VR-Genre zu breiter Marktdurchsetzung zu verhelfen. Es geht darum, aufzuzeigen, dass Randphänomene und Banalitäten — oder was dafür gehalten wird — massive Auswirkungen nach sich ziehen können.
Taucherbrille und leeres Zimmer
Nun kommt also mit 360-Grad-VR ein noch relativ neues Unterhaltungselektroniksystem daher, bei dem man sich bis auf weiteres ein taucherbrillenartiges Monstrum vor die Augen schnallen muss, um die Inhalte sehen zu können. Damit das Ganze gut funktioniert, sollte die Brille einigermaßen fest sitzen. Das hat Folgen, die definitiv eine Schwelle darstellen: Es wird Menschen geben, die das nicht wollen und unbequem finden, denen ihre Frisur und ihr Aussehen wichtiger sind, als 360-Grad-VR.
Der Rest sitzt also mit Taucherbrille im Wohnzimmer. Aber was heißt da »sitzen«? Man steht im Wohnzimmer, denn man soll ja in der Gegend rumkucken, sich drehen und auch ein bisschen bewegen. Stellt sich der Verbraucher so seinen Feierabend vor? Macht VR aus dem vor der Spielkonsole und dem Fernseher sitzenden oder mit Smartphone oder Tablet auf dem Sofa rumlümmelnden Couchpotato einen auch körperlich aktiven Menschen, der sich in sein Wohnzimmer stellt? Und schon wieder ist die Zielgruppe geschrumpft.
Dann gibt es Menschen, die sensibel darauf reagieren, wenn Gleichgewichtssinn, Hörempfindung und Seherlebnis nicht perfekt zusammenpassen: Ob man das nun Reisekrankheit oder Motion Sickness nennt: Es wird diesen Menschen einfach schlecht, wenn Sie eine VR-Brille tragen. Und wieder fehlen ein paar Kunden — auch wenn das angeblich nur ein paar wenige Prozent der Menschen betrifft.
Die 360-Grad-VR-Experiences wollen ja möglichst interaktiv und immersiv sein, sollen den Anwender also mit vielen Sinnen rundum involvieren — sonst könnte man ja auch einen ganz normalen Film ansehen. Das bedeutet aber, dass man bei actionreichen 360-Grad-VR-Erlebnissen Platz braucht. Wer aber hat schon ein dauerhaft leeres Zimmer übrig, in dem er sich mit einer undurchsichtigen VR-Brille vor den Augen, die ihm eine fremde unbegrenzte Welt vorgaukelt, sicher bewegen kann?
Gruppenerlebnis statt Komplettisolation
Was ist, wenn man das 360-Grad-VR-Erlebnis in der Gruppe genießen will? Dann muss die reale Umgebung in das Erlebnis einbezogen werden, man muss die Wände und Möbel sehen und/oder auch die Mitspieler. Das spricht für AR-Lösungen, was aber wiederum die Gestaltung massiv einschränkt: Wer will schon, dass jeder Krimi im eigenen Wohnzimmer spielt?
Alternativ müssen eben so ausgefuchste Techniken entwickelt werden, dass die Umgebung erfasst und gleich in Echtzeit in das VR-Erlebnis eingebaut wird: Man sieht die Mitspieler als Avatare und die eigene Wohnung im jeweils passenden Design, damit man nicht auf Sessel oder gegen Wände rennt. Das ist vielleicht irgendwann mal möglich, aber in Sichtweite ist das noch nicht. Vielmehr dürfte das noch viele Jahre dauern, wenn es überhaupt jemals so weit kommen wird.
Und bis dahin? Taucherbrille auf und rein in die Gummizelle? Mag sein, aber dann sprechen wir definitiv von einer Nischenanwendung — zumindest was den Home-Entertainment-Bereich betrifft.
Tool für Gamer
Es gibt einen Bereich, wo VR-Brillen vielleicht schon früher richtig erfolgreich werden könnten: unter Gamern. Die sind es gewohnt, sich im Bürostuhl sitzend durch fremde Welten zu kämpfen. Warum sollten sie das nicht mit einer VR-Brille tun?
Hier sprechen wir aber einfach von einem erweiterten Spiel, bei dem man keine Tastatur-Shortcuts oder Joysticks mehr braucht, um zu sehen, was in der Spielewelt gerade seitlich von einem passiert — nicht von einem gänzlich anderen, filmähnlichen 360-Grad-VR-Erlebnis.
Haben und brauchen Game-Entwickler und Filmemacher die gleichen Skills? Ist es realistisch, dass man beides gleich gut kann? Wer jung genug ist, sollte vielleicht ins Games-Lager wechseln, wenn er mit dem Bau von Welten und Experiences erfolgreich sein will …
Wohlfühlen in der Nische
360-Grad-VR jenseits von einer eng am Games-Bereich angelehnten Anwendung könnte also noch sehr lang eine Nische bleiben.
Die Nische muss ja nichts Schlechtes sein: Viele Unternehmen sind in ihrer Nische sehr erfolgreich. Und vielleicht sollte man 360-Grad-VR genau dort verortet sehen und nicht von einem gigantischen Massenmarkt träumen.
Eine größere Rolle könnte 360-Grad-VR in näherer Zukunft vielleicht in Training, Forschung und Technik, also im beruflichen Umfeld spielen. Oder vielleicht auch in der Kunst und im Museumsumfeld.
Gründe genug, um das Thema zu verfolgen, interessant zu finden und vielleicht sogar voranzutreiben — ein Hype aber, der einen riesigen Massenmarkt für 360-Grad-VR prognostiziert, scheint momentan doch eher der Hoffnung als dem Realitätssinn geschuldet.